Wegen Ferien geschlossen
Ein Herbstausflug in die Berge Italiens, Österreichs und der Schweiz
Es ist kalt. Einfach saukalt. Ein schneidender Wind pfeift über die Wiesen und lässt den Radler nur mühsam voran kommen. Lange Winterhose, Pullover, Anorak, Handschuhe, Halstuch unter strahlend blauem Himmel. Ringsum schneebedeckte Berggipfel, davor herbstlich gefärbte Bäume – ein grandioses Panorama mit fantastischer Fernsicht, hier kurz unterhalb des Reschenpasses. Abseits der stark befahrenen Hauptstraße, die immer in Sichtweite ist, leitet eine (nicht ganz perfekte) Beschilderung den Velotouristen mit pfadfinderischem Gespür fast autofrei durch die südtiroler Kälte. Steil ist es, bis zu 15 %, und schattig. Vor kurzem in Prad (am Stilfserjoch) gestartet, führt der Weg durch Obstplantagen und über ausgedehnte Weiden zum mittelalterlichen Glurns und nach Mals. Hier gelingt es mir nach einer überschaubaren Wartezeit, die Fernstraße lebend zu überqueren. Durch den alten Ortskern, in dem mir erstaunte Kirchgänger nachblicken, steigt der Weg an, ein Wegweiser weist nach Ulten, das, nur wenige Kilometer entfernt, einige hundert Höhenmeter über Mals liegt. Der Rest ist ein Rechenexempel à la „100 m Steigung auf 1 km sind 10 %, also sind X m Steigung auf Y km soundsoviel Prozent = ziemlich steil, aber wenn es hier schon 15 % hat, muss es ja bald besser werden...usw.“ So bleibt neben dem Kreislauf auch in dieser Kälte das Gehirn in Bewegung. Irgendwann steht dann an einem Gasthaus die aktuelle Höhe über dem Meeresspiegel. Das Schlimmste scheint geschafft, das Sträßchen windet sich über flache Wiesen, nur der Gegenwind bleibt. Ein Mountainbiker-Pärchen überholt, eingepackt wie im tiefsten Winter. Wenige Meter weiter stehen die beiden am Straßenrand und versuchen, die Blutzirkulation in ihren Füßen wieder in Gang zu bringen. Dank Wollsocken muss ich mich nicht dazu gesellen, sondern kann entspannt nach St. Valentin hinunter rollen, wo ich, wegen der nicht ganz perfekten Beschilderung, für wenige hundert Meter teilhaben kann am Strom der automobilen Reisenden, jetzt am Sonntag relativ LKW-frei. Doch auch das geht vorüber. Eine Ampel bietet die Möglichkeit zum Überqueren der Hauptstraße, wo es dann hinter dem Dorf bequem auf die Reschensee-Staumauer zugeht, entlang großer, öder Schotterplätze neben Seilbahnstationen und vielen „Wegen Ferien geschlossen“-Schildern an Gasthöfen und Hotels (es ist Ende September). Im windgeschützten Wald steigt links eine kleine Straße bis hoch über den See. Schaumkronen zieren dessen Oberfläche, und auf der gegenüberliegenden Seite dröhnt der Verkehr durch die Lawinengalerien auf der Hauptstraße (die auf separatem Radweg zwar ohne direkte Lebensgefahr befahren werden kann und damit einige anstrengende Höhenmeter spart, aber dem starken Wind voll ausgesetzt ist).
Hier oben ist es, in windgeschützter Lage, recht warm. In der ausgedehnten Picknickpause kommt weder ein Auto- noch ein Motorradfahrer an diesem relativ idyllischen Ort vorbei. Das ändert sich zwar eine paar Kilometer weiter, das Sträßchen wird breiter und verlässt die Dimensionen eines befestigten Waldweges, aber im Vergleich zu den Zuständen jenseits des Sees herrscht hier große Einsamkeit. Immer wieder ist durch die Bäume der berühmte Kirchturm von Graun in einer Bucht des Sees zu sehen. Er blieb zur Erinnerung an den Ort erhalten, der in den 40er Jahren dem Stauseeprojekt zum Opfer fiel und etwas höher neu erbaut wurde.
Ein paar enge Serpentinen bringen mich dann hinab zum See nach Reschen, ein wenig lebenswertes, aber namensgebendes Dorf rechts und links der Reschenstraße hinter (oder, von hier aus betrachtet, vor) dem Reschenpass. Die letzten zwei Kilometer bis zur ehemaligen Zollstation müssen mangels Alternativroute auf der Straße zurückgelegt werden. So erreiche ich zügig die riesigen asphaltierten Abstellplätze für LKW um die geschlossenen und inzwischen schon leicht verwahrlost aussehenden Zollabfertigungsgebäude, die übrig geblieben sind zwischen den blauen Europaschildern mit den Aufschriften „Italien“ und „Österreich“ im goldenen Sternenkranz. Weiterhin gut besucht scheinen aber die Imbiss- und Andenkenbuden, die Tankstellen und Schnapsläden, die den ehemaligen Kontrollpunkt zieren. Dank pfadfinderischen Gespürs finde ich den kleinen Weg, der unbeschildert von einer der Asphaltflächen hinter ein paar Müllcontainern abzweigt und als Radroute nach Nauders taugt. Wunderbar ungestört vom Fernverkehr rollt es, jetzt überraschenderweise ohne jeden Wind, über die Hochfläche dahin. Ich folge in Nauders der Wegweisung „St. Moritz“, werfe einen letzten Blick auf den Verkehr der Reschenstraße, die rechts unten zwischen den Felsen verschwindet, nehme im Ausflugslokal „Norbertshöhe“ unter strahlender Sonne auf der Terrasse Kaffee und Kuchen zu mir und rausche dann durch breite Kehren hinunter ins Inntal. Hier sind die Zollstationen noch besetzt, ich verlasse Europa und werde von einem schweizer Grenzpolizisten in die Eidgenossenschaft gewunken.
Veloland Schweiz. Man zahlt mit Franken statt mit Euro und folgt ansonsten einfach der roten Radwegbeschilderung. Die Landkarte könnte getrost in einer der hinteren Gepäcktaschen verschwinden, sie wird in den nächsten Tagen nur noch selten zur Orientierung beitragen müssen. „Scouls 20 km, St. Moritz 90 km“ steht am ersten Velowegweiser am Zoll Martina – damit lässt sich doch etwas anfangen, denkt der Reisende und vertraut sich den roten Schildern an. Entlang der breit in der Nachmittagssonne liegenden, fast unbefahrenen Nationalstraße verläuft der gut ausgebaute Radweg am Inn entlang. Die Straße wird mehrfach mit Unterführungen gekreuzt, aber nie berührt. Durch ruhige Dörfer radelt man gemächlich und stressfrei dahin. Kurz vor einer Einmündung auf die kaum befahrene Nationalstraße überholt der gelbe Postbus, wodurch erst in letzter Sekunde der rote Pfeil, der dem Velotouristen den Weg weist, zu sehen ist. Vollbremsung kurz vor der Kreuzung, die leer und breit in der Nachmittagssonne liegt, nach links zu der kleinen steilen Rampe hinüberschwenken, in einem Tunnel zum Fluss hinab fahren, scharf rechts auf steilem Stück wieder hinauf in Richtung Innbrücke, im letzten Augenblick die Kette auf das größte Ritzel bringen, um nicht absteigen zu müssen – und siehe da, ich befinde mich, gerade mal 10 Meter weiter, auf der anderen Seite der Kreuzung mit der Nationalstraße, die, wie schon erwähnt, weiterhin breit und leer in der sonntäglichen Sonne liegt. Schweizer Perfektion.
Über den Inn geht es zwischen ein paar Bauernhäusern hindurch zum Waldrand. Und hier warnt zum ersten Mal ein Schild vor dem Berg: „Steigt 150 m auf 2,5 km“. Wo kann dieser Weg da vorne am steilen Hang über dem Inn verlaufen? Vielleicht doch besser zurück zur (kaum befahrenen, bequem und stetig steigenden) Straße? Zweifelnd fahre ich weiter. Der Forstweg verläuft durch traumhaften Herbstwald, die Sonne scheint, kein Mensch weit und breit, und rechts rauscht der Inn. Das kann ja so nicht lange gut gehen, immerhin ist der Tacho ein untrüglicher Anzeiger für die Entfernung, und danach müsste doch bald eine Steigung kommen (jedenfalls dann, wenn diese noch fahrbar sein sollte). Die oben bereits erwähnten Rechenexempel werden erneut durchgeführt, die Grundkenntnisse über Dreisatz und Prozentrechnung aufgefrischt. Und es kommt, wie es kommen muss: Der Waldweg verlässt den Fluss, zwei enge Serpentinen und ein steiler Anstieg am Hochufer entlassen den schwitzenden Radler aus dem Wald auf eine große Wiese. Weit oben ist eine Kirche zu sehen, auf die der inzwischen nur noch schmale Schotter-Pfad zuläuft. An Fahren ist nicht mehr zu denken, das Hinterrad dreht immer wieder durch in dem rutschigen Untergrund. Leise fluchend, bei fantastischer Aussicht auf die schneebedeckten Dreitausender des Unterengadins und das glitzernde Wasser des Inns, schiebe ich mühsam bergauf, dem Kirchlein entgegen. Unten, im Tal, liegt die bequeme Straße weiterhin unbefahren da – jetzt allerdings über weite Strecken im Schatten.
Oben dann grüßen freundliche alte Schweizer, die das bisherige Treiben des Touristen von ihrer sonnigen Aussichtsbank interessiert verfolgt haben. Natürlich grüße ich betont locker zurück, bevor ich am Brunnen Wasser tanke und den kleinen Ort, der eigentlich vom falschen Ende her angefahren wurde, auf einer guten Naturstraße verlasse.
Bis Scouls fahre ich im Tal durch die Wälder leicht dahin. Die Hauptstraße verläuft jetzt weiter oben (und erinnert daran, dass diese Höhe irgendwann erreicht werden muss), die kleinen Bergdörfer liegen noch weit darüber. Die Aussicht vom Talboden aus ist naturgemäß etwas eingeschränkt, dafür bietet die Strecke interessante Aspekte der Radwegführung im Gebirge. Immer wieder werden fehlende Wegstücke zwischen den Endpunkten bestehender (und sehr gut befahrbarer) Forstwege durch enge, teilweise knapp am Wasser oder darüber am Steilufer verlaufende Pfade verbunden. Schilder weisen auf Engstellen und Steilstücke hin, bei Gegenverkehr ist Vorsicht geboten. Doch Gegenverkehr findet heute kaum statt, erst bei Scouls, im Einzugsbereich der Stadt, kreuzen Wanderer und ein paar Biker den Weg.
Die letzten Meter hinauf in die Stadt sind dann doch noch recht steil. Aber das Tourismus-Büro, das Hotel und die notwendigen Geschäfte liegen alle an der Hauptstraße, die bretteben durch den Ort führt – so geht es steigungsfrei ins Bett und am nächsten Morgen auch steigungsfrei zu einem Besuch des örtlichen Lebensmittelhandels.
Weniger steigungsfrei ist allerdings der weitere Verlauf der Veloroute Nr. 6, der Graubündenroute. Zum Bahnhof der hier endenden Linie der Rhätischen Bahn müssen die ersten Höhenmeter überwunden werden. Der Bahnhofskiosk überzeugt durch sein breites Angebot an Postkarten und Schokolade und lädt damit zum kurzen Verweilen ein. Langsam vertreibt die Sonne die morgendliche Kälte, so dass die Entscheidung gegen Handschuhe von allen Fingern akzeptiert wird. Durch die Unterführung am Bahnhof werden noch einmal ein paar flotte Meter bergab gerollt, dann das kleine Kettenblatt mit dem großen Ritzel verbunden und langsam hinauf nach Ftan gefahren – immer den roten Schildern folgend. Fast allein auf weiter Flur, ab und zu nur ein Postauto (wie der Bus hier genannt wird) oder ein Kleinlaster irgendeiner Handwerksfirma. Scouls bleibt tief unten im Tal zurück, ebenso die Hauptstraße, auf der hier ein wenig mehr Verkehr herrscht als zwischen Scouls und der Grenze nach Österreich. Die Bahnlinie, ebenfalls unterhalb gelegen, wird regelmäßig von roten Zügen befahren, gegenüber ist Schloss Tarasp auf einer Bergspitze zu sehen, und im Hintergrund mal wieder die schon erwähnten schneebedeckten Dreitausender – stellt man sich so nicht die ideale Schweiz vor?
Irgendwann kommt der Kirchturm von Ftan in Sicht. Aber wie so oft täuscht die Entfernung, die überholenden Handwerker sind nicht gleich am Dorfeingang zu sehen, sondern tauchen erst nach einigen Minuten dort auf. Und richtig, es folgen noch ein paar Serpentinen auf dem offenen Berghang, bevor endlich die Kirche erreicht ist. Am Brunnen lehnt ein Fahrrad mit Gepäcktaschen, ein anderes am Gasthof, die dazugehörigen Reisenden sitzen auf einer Bank in der Sonne. Beruhigend, dass es noch mehr solcher Menschen gibt, auch, wenn sie in die andere Richtung fahren und sich auf die beeindruckende Abfahrt nach Scouls freuen können.
Ich dagegen bleibe auf der Höhe und folge einer kleinen Panoramastraße, rolle hinter Ftan an Baukränen und Ferienhäusern vorbei, lasse dem schweren RollsRoyce, der vom edlen Landhotel kommt, die Vorfahrt und genieße den Blick hinunter ins Tal. Nach einigen Kilometern fällt die Straße leicht nach Ardez hinab, einem typischen engadiner Bergdorf mit schweren steinernen Häusern, deren Fassaden kunstvoll bemalt sind. Dort erreiche ich wieder Hauptstraße und Bahnlinie. Gegenüber Scouls sind ungefähr 200 Höhenmeter gewonnen, aber die Veloroute 6 überwindet für diesen Gewinn deutlich mehr – recht spektakuläre – Höhenmetern.
Am Ortsende, vor dem Erreichen der Hauptstraße, steht dann wieder eines dieser roten Warnschilder an dem schmalen Weg hinauf in die Berge: Steigt 210 m auf 2,5 km. Hier sind keine aufwendigen Rechenoperationen notwendig, um zu erfassen, dass es bis Bos-cha wohl kaum ohne Schweiß abgehen wird. Selbst das Bikerpärchen, dass ohne Gepäck langsam an mir vorbei fährt, stöhnt und schwitzt. Dafür herrscht aber ansonsten erstaunliche Ruhe bei herrlicher Aussicht. Trotz häufiger Kurzpausen zur Entspannung der Wadenmuskulatur erreiche ich Bos-cha, hier hat die Schinderei ein Ende. Das Dörfchen mit seiner Handvoll Häuser und einem etwas heruntergekommen wirkenden Gasthof ist vom Strom des Tourismus offensichtlich kaum gestreift worden. Die Ortsdurchfahrt ist ein unbefestigter staubiger Platz, und bis auf einige Wanderer ist kein Mensch zu sehen. Das ändert sich aber in Guarda, nur wenige Kilometer weiter. Ausflugslokale, Spaziergänger, Geschäfte, und, unterhalb des Dorfes, ein großer Parkplatz mit öffentlicher Toilette für den Guarda-Besucher. Aber auch das ist noch weit entfernt von den wahren touristischen Zentren in den Alpenländern, der Ort erinnert immer noch an ein abgelegenes Bergdorf hoch über dem Inntal (das dann auch bald auf velotauglichen Wanderwegen im Örtchen Lavin erreicht wird).
Hier trifft die Route auf das Tunnelportal der Vereina-Bahnlinie, die die Anfahrt ins Engadin erleichtert. Die Fortsetzung dieser Radtour auf der anderen Seite des Tunnels erfolgt in einer der nächsten Ausgaben von frankfurt aktuell. (ps)
...hier geibts die Fortsetzung (Teil 2) der Geschichte
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