„Mann von Messer erstochen“ oder „Frau von Pistole erschossen“ – das klingt seltsam? Zugegebenermaßen sind diese beiden Überschriften erfunden. Dabei sind Meldungen im Stil von „Kind von Auto überfahren“ ganz alltäglich. In allen drei Fällen fehlt etwas Entscheidendes: Der Mensch, der das Ereignis zu verantworten hat. Das ist kein Zufall und nur eine von vielen sprachlichen Verrenkungen in der öffentlichen Berichterstattung. Wir schauen uns einige davon an, weil Sprache ein sehr mächtiges, aber viel zu oft vernachlässigtes und wenig beachtetes Mittel ist.
Warum wir ständig schuld sind
Auto touchiert Radfahrer – 82-Jähriger tot/1
Wir starten mit einem kleinen Test: Die fünf Überschriften sind nicht erfunden, sondern stammen aus echten Presseberichten. Überlegt nach dem ersten Lesen, wie viele Menschen beteiligt waren, wer wohl die Kollision verursacht hat und wer auf den ersten Blick Opfer und wer Täter ist. Zu jeder Überschrift erklären wir dann die sprachlichen Besonderheiten und den tatsächlichen Ablauf.
Was steckt hinter diesen Schlagzeilen?
Der erste Teil dieser Überschrift klingt noch recht harmlos. „Touchieren“ hat etwas von sanften Berührungen. Aber wie kann ein Auto, also ein Gegenstand, jemanden aktiv berühren? Und wieso ist danach plötzlich ein Mensch tot? Das steht, äußerst verklausuliert, im weiteren Text: Ein Autofahrer oder eine Autofahrerin (das bleibt unklar, es wird auch im weiteren Text konsequent nur von „einem Auto“ geschrieben, das scheinbar ohne Mensch am Steuer unterwegs war) hat auf einer Bundesstraße den Radfahrer beim Überholen mit dem Außenspiegel gerammt, in dessen Folge der Radfahrer stürzte und kurz darauf im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Kein Wort zum offensichtlich nicht eingehaltenen Überholabstand. Der verantwortliche Mensch am Lenkrad bleibt völlig ungenannt.
Pforzheimer Fahrrad-Aktivist „Natenom“ stirbt bei Unfall mit Auto/2
Diese Überschrift wirft die Frage auf, wieso ein Fahrrad-Aktivist einfach „stirbt“. Hatte der Radfahrer in der Nähe eines zufällig dort stehenden Autos einen Herzinfarkt?
Solche Fälle gibt es zwar auch, sie sind aber sehr selten. Tatsächlich wurde in diesem Fall der Radfahrer von einem Autofahrer auf einer Landstraße mit 80 – 90 km/h von hinten gerammt und getötet. Sterben kann man alleine und ohne Fremdeinwirkung, bei einer Tötung wird aber von einer anderen Person Gewalt ausgeübt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese vorsätzlich oder nicht durchgeführt wird. Menschen sterben in der Regel nicht einfach so im Straßenverkehr, sondern es gibt eine Ursache dafür. Inzwischen wurde der Autofahrer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt (150 Tagessätze, 2 Monate Fahrverbot).
Auch bei dieser Überschrift wurde zusätzlich der Autofahrer nicht erwähnt, lediglich sein Fahrzeug. Dieses fuhr aber nicht autonom, sondern wurde aktiv von einem Menschen gesteuert. Der Täter bleibt somit ungenannt. Diese sogenannte Entpersonalisierung ist ein übliches sprachliches Mittel, um die Verantwortung von dem eigentlich verantwortlichen Menschen weg zu lenken und ein menschliches Fehlverhalten zu verschleiern.
Auffällig ist allgemein, dass diese Entpersonalisierung fast ausschließlich bei der Beteiligung von Menschen durchgeführt wird, die ein Auto oder LKW steuern. Bei Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad fahren, wird diese Technik praktisch nie angewendet. Bei diesen Personengruppen wird der Mensch in den Vordergrund gerückt, der aktiv etwas (falsch) macht.
Unfall bei Bramsche: Trecker nimmt Auto die Vorfahrt/3
Hier wurde die Verschleierung der menschlichen Verantwortung auf die Spitze getrieben. Auch in diesem Fall dürften Menschen am Steuer der Kraftfahrzeuge gesessen haben, laut Überschrift fuhren diese aber beide selbstständig. Schuldig scheint der Trecker zu sein (dieser hat aktiv etwas getan), Menschen waren nicht an der Kollision beteiligt.
Sehr beliebt sind auch Formulierungen, bei denen dem Opfer in der Überschrift die Verantwortung zugeschrieben wird. Bei dieser stellt sich die Frage, wieso der Radfahrer sich [selbst] verletzt haben soll. Erst im weiteren Text folgen etwas mehr Informationen: „Wie die Polizei am Dienstag mitteilte, wurde das Fahrrad von einem dahinter fahrenden Auto touchiert. Der Fahrradfahrer verlor demnach den Halt und stürzte in einen Graben.“
Radfahrer verletzte sich bei Unfall in Lauterbach schwer/4
Auch hier war offensichtlich ein autonom fahrendes Auto ohne Mensch am Steuer unterwegs, das selbstständig ein Fahrrad „touchierte“.
Der Radfahrer hat sich also gar nicht selbst verletzt, sondern er wurde auch in diesem Fall von einem anderen Menschen mit dessen Auto gerammt, stürzte in der Folge und wurde somit durch eine gewaltsame Einwirkung von außen verletzt.
Für diese Schlagzeile kassierte das verantwortliche Online-Magazin laut Tagesspiegel sogar eine Rüge des Deutschen Presserates, weil auch in diesem Fall die Verantwortung in der Überschrift völlig verdreht wurde. Sie suggeriert, dass die Radfahrerin (aktiv) in einen abbiegenden LKW (passiv) gestürzt wäre. Tatsächlich hat aber der LKW-Fahrer der Radfahrerin beim Abbiegen die Vorfahrt genommen und sie gerammt.
45-jährige Radfahrerin stürzt in abbiegenden LKW/5
Die sowohl von der Polizei als auch vielen Journalistinnen und Journalisten verwendeten Sprachmittel kann man grob in drei Kategorien einteilen:
- Verwendung von verharmlosenden (Passiv-)Formulierungen
- Verschweigen der beteiligten/verantwortlichen Menschen (Entpersonalisierung)
- Versuche, den Opfern zumindest eine Teilschuld zuzuschreiben
Bei allen soll das Gefühl vermittelt werden, dass die Autofahrerinnen und Autofahrer keine Schuld an den Kollisionen zu haben. Dadurch soll der Eindruck entstehen, dass es keine schuldige Person gibt und es damit auch keinen Grund gibt etwas an den systemischen Problemen (z. B. hohe Regelignoranz und fehlende Kontrollen) zu ändern.
Zusätzlich gibt es leider immer wieder Formulierungen der Polizei, mit denen die Verursacherinnen und Verursacher noch in der ersten Pressemitteilung direkt nach einer Kollision in Schutz genommen werden.
Der angeblich schuldige „tote Winkel“
Ein sehr beliebtes Beispiel für Letzteres ist der Verweis auf den „toten Winkel“, der besonders häufig bei LKW als vom Lenkrad aus angeblich nicht einsehbarer Bereich ins Spiel gebracht wird. Beispiel: Nachdem per Überschrift schon die Schuld auf die Radfahrerin übertragen wurde („Vreden – Radfahrerin stößt mit Lkw zusammen“6, Radfahrerin macht aktiv etwas, LKW war passiv), wird im weiteren Text der LKW-Fahrer zunächst entlastet: „Der Lkw-Fahrer […] war nach rechts in die Winterswyker Straße abgebogen. Dabei übersah er die Radfahrerin, die auf der Winterswyker Straße […] unterwegs war. Nach bisherigen Erkenntnissen hatte sich die Zweiradfahrerin im toten Winkel vor dem Lkw befunden“.
Der LKW-Fahrer konnte die Radfahrerin also angeblich gar nicht sehen, weil sie sich im „toten Winkel“ befand. Kleiner Haken an dieser Theorie: diesen „toten Winkel“ gibt es nicht mehr. Seit 2009 sind EU-weit für alle LKW weitere Spiegel vorgeschrieben, die u.a. den Bereich direkt vor dem Fahrzeug abdecken. Normalerweise ist an dieser Stelle die Pressemeldung vorbei, in diesem außergewöhnlichen Fall folgt aber noch ein wichtiges Detail als Fortsetzung des Satzes: „[…] als dessen Fahrer, nach eigenen Angaben vom Navigationsgerät abgelenkt, mit dem Sattelzug anfuhr und abbog.“ Aha! Es lag also gar nicht am „toten Winkel“, sondern daran, dass der LKW-Fahrer abgelenkt war und deswegen offensichtlich nicht in seine Spiegel schaute. Wieso hier erst eine völlig andere Ursache in den Raum gestellt wurde, bleibt leider offen.
„übersehen“ oder Regeln missachtet?
Weltweit rammen auch immer wieder Menschen mit ihren Kraftfahrzeugen Straßen- bzw. U-Bahnen. Die Folgen sind oft schwerwiegend, die Texte lesen sich aber in der Regel sehr ähnlich: Die riesigen Züge seien schlichtweg „übersehen“ worden. Dass in aller Regel extra die vorhandenen Ampeln Kollisionen zuverlässig verhindern sollten, wird dabei nicht immer erwähnt.
„übersehen“ ist in diesem Bericht bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn eigentlich ist auch dieser Begriff irreführend und verharmlosend. Er wirkt entschuldigend und klingt nach einer alltäglichen Kleinigkeit, nach dem Motto „ups, kann ja mal passieren“. Angebracht ist diese Formulierung bei Kollisionen mit Verletzten und getöteten Menschen nicht. Gemeint ist schließlich, dass Menschen zum Beispiel keinen Schulterblick machen, Verbote beim Abbiegen ignorieren, durchs Smartphone abgelenkt waren oder „nur noch schnell“ bei rot über eine Ampel fahren wollten und dadurch selbst große Bahnen nicht wahrnahmen.
Wenn also selbst solche großen Bahnen immer wieder „übersehen“ werden, was machen dann erst Menschen mit deutlich kleineren Fahrzeugen (zum Beispiel Fahrrädern)? Spätestens an diesem Punkt merkt man, dass man zur Erhöhung der Verkehrssicherheit eigentlich die Ursache angehen und nicht die Verantwortung auf die oft vulnerableren Opfer im Straßenverkehr schieben sollte. Typischerweise wird in Polizei- und Presseberichten aber an die potentiellen Opfer appelliert, damit diese buntere Kleidung oder Helme tragen.
Wer getötet wurde, sagt nicht mehr aus
Ein weiteres Problem bei der Unfallberichterstattung ist, dass diejenigen, die schwer verletzt oder direkt getötet wurden, der Polizei gegenüber keine Zeugenaussage tätigen können. Somit steht direkt nach einem Unfall oft nur die Sichtweise der autofahrenden Person zur Verfügung. Diese Aussagen sind naturgemäß nicht neutral und in der Regel auch noch von einem Schock beeinflusst. Das ist nachvollziehbar und auch nicht zu ändern.
Nicht nachvollziehbar dagegen ist, dass solche Aussagen von der Polizei gerne ungeprüft übernommen und als vermeintlich neutrale Polizeimeldung veröffentlicht werden. Diese werden dann nicht selten ungeprüft von Journalistinnen und Journalisten im Wortlaut übernommen. Dadurch kommen entschuldigende Formulierungen wie „[…] übersah er auf Grund tiefstehender Sonne einen vor ihm fahrenden Radfahrer und touchierte dessen Hinterrad“7 oder die häufige Formulierung im Stil von „konnte nicht mehr bremsen“ zustande. Ob z. B. die Geschwindigkeit den Verhältnissen angemessen bzw. angepasst war oder (wie man häufig sehen kann) ein Smartphone in der Hand gehalten wurde, wird in der Regel dabei nicht erwähnt und erst später per Gutachten ermittelt. Über diese späteren Erkenntnisse wird dann aber auch nur noch berichtet, wenn jemand getötet wurde.
Wie es besser geht
Aus unserer Sicht ist es daher sinnvoller, wenn die Polizei bei der ersten Berichterstattung auf Details zum Unfallhergang verzichten würde – das vermeidet die Verbreitung von später durch die Unfallgutachten widerlegten Vermutungen und reduziert nebenbei auch die Beeinflussung der Zeuginnen und Zeugen, die häufig zu diesem Zeitpunkt noch per öffentlichem Aufruf gesucht werden. Für so einen Aufruf reichen auch Informationen zum Ort, Datum und den beteiligten Personen.
Was bei Menschen hängen bleibt, ist häufig nur die Überschrift. Natürlich ist es mit etwas Denksport verbunden, wenn man knackig kurze Überschriften als Ziel hat, aber gleichzeitig in der Sache korrekt bleiben möchte. Diese Energie ist aus unserer Sicht aber sinnvoll investiert und sollte von nach journalistischen Standards arbeitenden Journalistinnen und Journalisten gerne aufgebracht werden.
Und anstatt der von der Polizei und Presse an die Opfer gerichteten Hinweise wünschen wir uns Hinweise an diejenigen, die mit den besonders gefährlichen Fahrzeugen im Straßenverkehr unterwegs sind. Auch pressewirksame Aufklärungsaktionen sollten sich primär an die Verursacherinnen und Verursacher richten und nicht an die Opfer.
Die Gründe für die Verschleierung
Wieso sind diese Formulierungen aber überhaupt so wichtig? Erst wenn ein Problem klar benannt und damit von der Bevölkerung verstanden werden kann, rücken Lösungen in greifbare Nähe. Wenn aber vermeintliche Einzelereignisse „einfach passieren“, „Menschen sterben“ oder sie „sich [selbst] verletzen“, gibt es für die politisch Verantwortlichen keinen Grund, etwas an den scheinbar nicht vorhandenen Ursachen zu ändern. Wenn wir aber tagtäglich lesen würden, dass auch heute wieder die üblichen acht Menschen aus unserer Gesellschaft teilweise direkt vor unseren Haustüren von anderen Menschen im Straßenverkehr getötet wurden und es hierfür systemische Ursachen gibt, würde das Thema eine ganz andere Aufmerksamkeit bekommen.
Viele Menschen dürften auch dank der geschickten Nutzung von Sprache gar nicht mitbekommen haben, dass alleine der Straßenverkehr in Deutschland seit 1950 ca. 800.000 Todesopfer gefordert hat. Dazu kommen weit über 30 Millionen Menschen, die verletzt wurden.8 In diesen Zahlen enthalten sind auch Alleinunfälle, die z. B. durch medizinische Notfälle, technische Defekte usw. verursacht wurden.
Wir bedanken uns bei Marcel Löwen, der mit seiner Bachelorarbeit mit dem Titel „Sprache als Katalysator: Die Rolle der medialen Berichterstattung über tödliche Verkehrsunfälle im Kontext der Verkehrswende“ viele wertvolle Informationen beisteuerte. Seine Bachelorarbeit kann heruntergeladen werden unter:
Quellen:
/2 bnn.de/pforzheim/enzkreis/pforzheimer-fahrrad-aktivist-natenom-stirbt-bei-kollision-mit-einem-auto
/5 www.tagesspiegel.de/berlin/wie-polizeimeldungen-autounfalle-verharmlosen-4136413.html
/6 www.presseportal.de/blaulicht/pm/24843/5711791