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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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Vogelgezwitscher im Fahrradmordor

Zur Gedenkfahrt für Natenom am 2. Februar 2025

Normalerweise geht es in Frankfurt aktuell um lokale Verkehrs­politik und um Aktionen der ADFC-Ortsgruppen in und rund um Frankfurt. Am 30. Januar 2025 jährte sich der Todestag von Natenom zum ersten Mal. Natenom hatte auch einen bürgerlichen Namen, aber für mich war das nicht wichtig.

Mit seinem Tod wurde er für viele zu Andreas, aber für mich bleibt er Natenom. Ein 77-jähriger Autofahrer fuhr Natenom am 30.01.2024 mit seinem Auto auf der L 574 zwischen Neuhausen und Schellbronn in der Nähe von Pforzheim in Baden-Württemberg tot.

Im Jahr 2018 entdeckte ich seinen Blog, in welchem er unter anderem über die guten und schlechten Seiten des Radfahrens berichtete, aber auch über Open-Source-Software, Datenschutz und alles andere, das ihn beschäftigte. Bald nahm ich Kontakt zu ihm auf und seitdem waren wir immer wieder im Austausch miteinander. Ehrlicherweise wusste ich anfangs gar nicht so genau, wo Pforzheim, ­Natenoms Wohnort, liegt. Was er von seinen alltäglichen Radfahrten berichtete, kam mir bekannt vor: völlig unzureichende Überholabstände, Hu-pen, dichtes Auffahren und ­generell die Missachtung der Straßenverkehrsordnung durch Autofahrende gegenüber Radfahrenden.

Natenoms Maskottchen Kagube
Natenoms Maskottchen Kagube
Privat

Allerdings schien dies in Pforzheim bis ins Absurde gesteigert zu sein. Irgendwann schlug ich ihm vor, Pforzheim nur noch Fahrradmordor zu nennen, benannt nach dem Reich des bösen Herrschers Sauron aus Tolkiens „Der Herr der Ringe“. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft waren leider nicht daran interessiert, die Angriffe gegen ihn zu verfolgen. Vieles davon ist in seinem Blog dokumentiert. Die meisten Erlebnisse finden sich dort jedoch nicht. Man liest dort nicht, wie er beim Einkaufen aufs Übelste beschimpft wurde, nicht, wie drei Männer auf der Landstraße aus ihren Autos ausstiegen und ihn mit massiver körperlicher Gewalt bedrohten, nicht, wie es ihm ehrlich leid tut, dass er einen rücksichtslos überholenden Autofahrer mit Schimpfwörtern, die dieser nicht hören konnte, ­adressierte.

Am 1. Februar 2025 fuhr ich mit der S-Bahn nach Darmstadt und von dort mit dem Fahrrad nach Karlsruhe. Der Weg dorthin führte durch den Landkreis Bergstraße, vorbei an Mannheim durch Heidelberg. Dort wurde ich von einem Autofahrer samt Begleiterin in einem menschenleeren Gewerbegebiet nach einem Überholmanöver mit 50 Zentimetern Abstand zunächst ausgebremst und schließlich zum Anhalten genötigt. Ich hatte den scheinbaren Fehler gemacht, die Rücksichtslosigkeit mit dem fragenden Heben des linken Armes zu beantworten. Es sollte wohl ein Vorgeschmack auf Fahrradmordor werden. Die Fahrt durch den Landkreis Karlsruhe war ein Kulturschock. Fahrräder existieren dort nicht mehr im öffentlichen Raum. Dies änderte sich erst wieder in der Stadt Karlsruhe. In vier Stunden Fahrt begegnete ich vielleicht fünf Menschen auf Fahrrädern. Dafür wurde ich von einer Geschwindigkeitsanzeige am Straßenrand in einer 30er-Zone rot blinkend darauf hingewiesen, dass ich mit 20 km/h viel zu langsam fuhr.

Am 2. Februar fand in Pforzheim die Gedenkfahrt für Natenom statt. Auch in einigen anderen Städten gab es am selben Tag ebenfalls Gedenkfahrten. Die Zubringertour von Karlsruhe nach Pforzheim wurde nach einigen Kilometern plötzlich durch einen lauten Knall unterbrochen. Was ich zunächst für einen Schuss hielt, stellte sich als das Geräusch heraus, das ein Autofahrer macht, wenn er beim Missachten der Vorfahrt ein Velomobil in voller Fahrt rammt. Das hätte uns alle treffen können. Mit einem mulmigen Gefühl kam ich in Pforzheim am Bahnhof an. Wie ich später hörte, blieb der Velomobilfahrer glücklicherweise unverletzt.

Die Reden auf der Kundgebung vor der Gedenkfahrt in Pforzheim sind allesamt sehenswert und finden sich auf dem Youtube-Kanal des ADFC Frankfurt am Main. Besonders hervorheben möchte ich die Rede von Siggi von der Critical Mass Pforzheim, der eindrücklich die Todesumstände von Natenom beschrieb:

„Und ich schlage vor, dass wir zehn Sekunden gemeinsam schweigen und dabei die Augen schließen. Denn zehn Sekunden fährt man bei 90 km/h schnurgerade auf der Landstraße zwischen Neuhausen und Schell­bronn von der letzten Kurve bis zur Unfallstelle. So lange wurde Andreas laut der Staatsanwaltschaft trotz ausreichender Beleuchtung, bei guten Sichtverhältnissen auf seinem Fahrrad – Zitat – ‚gänzlich übersehen‘. Zehn lange Sekunden! Ein Mensch musste deswegen sterben. Ein anderer darf zwei ­Monate lang nicht Auto fahren. So will es die Staatsanwaltschaft Pforzheim. Bitte schließt jetzt die Augen: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10. Ich danke euch.“

Siggi fuhr fort mit fünf bewusst provokant formulierten Vorschlägen:

  1. Wir fordern wirksame Grenzkontrollen! Die Grenze für Radfahrende ist ein Überholabstand von zwei Metern.
  2. Wir fordern Zurückweisungen … von Fahrerlaubnissen! Wer andere Menschen mit einem Kraftfahrzeug verletzt oder tötet ist fahruntauglich bis zum Beweis des Gegenteils.
  3. Wir fordern mehr Haftplätze … für Kraftfahrzeuge! Autos, die als Waffe verwendet werden, müssen eingezogen und in ­Abschlepphaft genommen werden.
  4. Wir fordern ein Ende der Verantwortungslosigkeit! Wir fordern die Halter:innenhaftung!
  5. Wir fordern keine Abschiebeassistenten, wir fordern Abbiegeassistenten! Alle Lkw müssen verpflichtend damit ausgestattet werden! Gegen einen Betonmischer nützt kein Helm! Und von den Medien fordern wir nur eines: Hört endlich auf mit dieser verharmlosenden Berichterstattung! Menschen werden nicht von Autos touchiert, erfasst, gestreift, erwischt! Sie kollidieren auch nicht mit Autos! Nein, Menschen werden gerammt, zu Boden gestoßen, überfahren von anderen Menschen, die dabei ein Auto ­steuern.“

Azetbur, bürgerlich Ulrike Medger, war ebenfalls nach Pforzheim gekommen und hielt eine Rede. Sie stand 2024 in Dresden vor Gericht, nachdem ihr auf einer Landstraße ein Autofahrer im Berufsverkehr über 30 Sekunden lang dicht auffahrend und dauerhupend gefolgt war, bis er über eine durchgezogene Linie illegal links abbog. Sie hatte einen Strafbefehl wegen Nötigung erhalten. Gegen den Autofahrer wurde das Verfahren wegen eines fehlenden öffentlichen Interesses eingestellt. Sie sagte:

„Diese motorisierte Gewalt wird staatlich gefördert. Anzeigen werden entweder nicht bearbeitet oder die Staatsanwaltschaften verneinen das öffentliche Interesse und stellen die Verfahren ein. […] Ich bin nicht weiter bereit, das hinzunehmen! Ich habe es satt, jeden Tag aufs Neue gefährdet zu werden! Ich habe es satt, dass man sich in Abhängigkeit von Wetter, Rad oder Autofahrenden Routen aussuchen muss, um die No-Ride-Areas oder motorisierte Gewalt zu umfahren! Ich habe es einfach satt! […] Und ich hätte gerne einen Wegbelag, der mich nicht zwingt, das Mountainbike zu nutzen oder [dass] man danach aussieht, als hätte man sich nass in einem Sandkasten gewälzt! Ich habe es satt, gefährdet zu werden!“

Wer Azetbur dabei helfen möchte, die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) zu ändern, damit in ­solchen Fällen nicht mehr das ­öffentliche Interesse verneint werden kann, ist aufgerufen, sich bei Azetbur auf Mastodon, Bluesky oder Youtube bzw. via E-Mail unter oeffentlichesinteresse@gmx.de zu melden.

Vorm Start übermittelte Falko Görres vom Leitungsteam der ­Gedenkfahrt den Wunsch der Polizei, die Teilnehmenden mögen zu ihrem eigenen Schutz einen Helm tragen. Nach einem kurzen Gesangstraining fuhren wir mit den Rädern durch die Pforzheimer Innenstadt. Besonders fiel mir dabei auf, dass keinerlei Infrastruktur für den Radverkehr vorgesehen war. Es gab einfach nichts, noch nicht einmal Gehwege, die durch blaue Schilder zu benutzungspflichtigen Geh- und Radwegen umgewidmet wurden. Nichts. Am Platz für Radwege mangelt es ­definitiv nicht. Wir fuhren auf mehrspurigen Fahrbahnen durch eine Autostadt. Über den einwandfreien Asphalt der L 574 ­arbeiteten wir uns langsam den Berg empor, durchquerten ­Huchenfeld und legten einen ­Gesangsstopp in Hohenwart ein. Aggressive Anfeindungen, mit denen ich aufgrund der Berichte aus dem Vorjahr gerechnet hatte, konnte ich nicht beobachten, dafür aber einige von so vielen Fahrrädern begeisterte Kinder, die uns zuwinkten. Nach rund 14 Kilometern erreichten wir Natenoms Ghostbike zwischen Schellbronn und Neuhausen. Wir legten unsere Räder auf den Asphalt und ­gedachten seiner. Lediglich das Gezwitscher der Vögel durchbrach die Stille auf der ansonsten stark frequentierten Landstraße. Natenom hätte das sicherlich ­gefallen.

Mario Holldack

Danksagung

Der ADFC Frankfurt wirkte unterstützend bei der Organisation der Gedenkversammlung für meinen Sohn Andreas Mandalka und alle anderen Menschen, die im Straßenverkehr getötet wurden. Es war für mich ein besonderes und ergreifendes Erlebnis, diese großartige Gemeinschaft mit so vielen wunderbaren Menschen zu erleben. Die Kundgebung mit den beeindruckenden Reden und die Gedenkfahrt zur Unfallstelle machten viele Menschen in Pforzheim und Umgebung aufmerksam auf das wichtige Thema „Sicherheit im Straßenverkehr für ALLE “ – das Herzensanliegen meines Sohnes.

Dafür möchte ich mich von ganzem Herzen bedanken!

Monika Mandalka