„Es kann nur Verlierer geben“
„Tragisches Augenblicksversagen“: Vor Gericht wurde über einen Unfall mit Todesfolge verhandelt
Eine Autofahrerin hat an einer Kreuzung in Griesheim ein Stoppschild ignoriert und einem Radfahrer, der auf der Vorfahrtstraße fuhr, die Vorfahrt genommen. Es kam zu einer Kollision der beiden Verkehrsteilnehmer. Dabei wurde der Radfahrer schwer verletzt und verstarb am Tag darauf an den Folgen des Unfalls.
Soweit das Geschehen am 5. Mai des vergangenen Jahres, über das nun vor dem Amtsgericht verhandelt wurde. Der Fall ist unstrittig, die Autofahrerin, angeklagt der fahrlässigen Tötung, nimmt die Schuld auf sich und zeigt sich selbst tief betroffen und erschüttert. Sie habe den Radfahrer übersehen und könne sich nicht erklären, wie es zu dem Unfall gekommen sei. Sie habe an dem Stoppschild (oder der weißen Haltelinie, sie sei sich da nicht mehr sicher) gehalten und sei anschließend in die vermeintlich freie Straße eingefahren. Den Radfahrer habe sie erst bemerkt, als es zu der Kollision gekommen sei.
An der von der Anwältin der Angeklagten vorgetragenen Darstellung des Falls meldet die Staatsanwaltschaft Zweifel an. Hätte die Angeklagte wirklich am Stoppschild oder der weißen Haltelinie gehalten, wäre der Unfall zwar auch nicht zu vermeiden gewesen, hätte aber höchstwahrscheinlich weniger dramatische Folgen gehabt. Doch lasse das Unfallgeschehen darauf schließen, dass die Angeklagte mit weitaus höherer Geschwindigkeit auf den Radfahrer getroffen sei, mit einer Geschwindigkeit, die nur ohne ein vorheriges Anhalten am Stoppschild erklärt werden könne.
Dazu werden Zeugen und eine Zeugin gehört. Gesehen hat den Unfall keiner der Befragten, erst durch den Knall bei der Kollision seien sie aufmerksam geworden. Ob das Auto schnell gefahren sei, wird gefragt. Ob Bremsgeräusche zu hören gewesen seien. Ob die Fahrerin am Stoppschild gehalten habe. Ob die Sichtachse in die Vorfahrtstraße durch Hindernisse eingeschränkt gewesen sei. Die Antworten sind klar und deutlich, tragen aber wenig zur Klärung bei. Einig jedoch sind sich alle darin, dass das Unfallauto nach der Kollision nicht mitten auf der Kreuzung gestanden habe, sondern weit jenseits davon. Eine Skizze des Unfallortes wird auf dem Richtertisch ausgebreitet. Zeugen, Staatsanwältin, Verteidigerin und Nebenkläger versammeln sich und versuchen, das Unfallgeschehen anhand dieser Skizze nachzuvollziehen.
Die Besatzung des Streifenwagens, die am Unfallort eintraf und ebenfalls als Zeuge geladen ist, kann ausführlich ihre Arbeit vorstellen (Absperren, die Rettungskräfte unterstützen, Gaffer im Zaum halten, für Ordnung sorgen), zum Unfallhergang aber kann auch sie nichts Entscheidendes beitragen, da sie erst nach den Rettungskräften am Ort des Geschehens eintraf. Der Alkoholtest, den sie an der Angeklagten ausführten, blieb negativ.
Die Richterin leitet die Verhandlung ruhig, zeigt sich einfühlsam, weist darauf hin, dass es bei diesem Verfahren nur Verlierer geben werde, egal, wie das Urteil ausfalle. Die Angeklagte leidet sichtlich unter ihrer Schuld, die Familie des getöteten Radfahrers leidet unter dem Verlust von Ehepartner und Vater und sieht sich jeglicher Zukunftspläne beraubt. Die Richterin bietet an, jederzeit Pausen einzulegen, falls jemand der Beteiligten dies wünsche. Und ergänzt, dass dieser Fall, so dramatisch er auch sei, jedem von uns passieren könne, ein kleiner Moment der Unachtsamkeit, ein „tragisches Augenblicksversagen“, könne genügen, einen Menschen zu verletzen oder gar zu töten.
Es folgt der Auftritt eines Gutachters, der das Unfallgeschehen erläutern soll. Dies tut er sehr ausführlich, rechnet Geschwindigkeit und Bremswege vor, zeigt Fotos mit Spuren („Reibspuren“) an der Autokarosserie, an den Reifen, an der Fahrradgabel oder den Pedalen, zieht daraus seine Schlüsse. Fotos aus der Anatomie, die Unterhautblutungen und Schürfwunden am Opfer zeigen, bleiben der Öffentlichkeit wohlweislich verborgen. Das Ergebnis der ausführlichen Analyse lässt den Gutachter daran zweifeln, dass die Angeklagte mit ihrem Auto an der Haltelinie (oder am Stoppschild) zum Stehen gekommen sei. Die Beschleunigung nach einem Halt hätte bei weitem nicht zu den vorgefundenen Beschädigungen an Auto und Fahrrad geführt, lautet sein Urteil. Deshalb müsse die Angeklagte ohne Halt in die Kreuzung eingefahren sein. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass das Fahrzeug erst weit hinter dem Kreuzungsbereich zum Stehen gekommen sei.
Die Beweisaufnahme ist damit abgeschlossen, der Gutachter entlassen. Die Richterin erinnert daran, dass die Angeklagte bisher in keiner Weise strafrechtlich aufgefallen sei und dass keinerlei Hinweise auf Verkehrsdelikte vorlägen. Dies hindert die Staatsanwältin nicht daran, noch einmal auf die Unstimmigkeiten in der Aussage der Frau hinzuweisen. „Aus technischer Sicht ist es ausgeschlossen, dass die Angeklagte am Stoppschild gehalten hat“, sie habe damit ihre Sorgfaltspflicht verletzt, mit der der Unfall hätte vermieden werden können. Deshalb fordere sie eine einjährige Haftstrafe, ausgesetzt auf Bewährung, und ein viermonatiges Fahrverbot.
Die Verteidigung hat dem nicht viel entgegenzusetzen, würde es aber gerne bei einer Geldstrafe belassen und das Fahrverbot auf zwei Monate begrenzen. Doch folgt die Richterin der Forderung der Staatsanwaltschaft ebenso wie der der Nebenklage, die einen Hinterbliebenenausgleich in Höhe von 12.500 Euro fordert. Der könne zwar den erlittenen Verlust nicht ausgleichen, vielleicht aber über die ersten finanziellen Probleme hinweghelfen. Die Verfahrenskosten gehen zulasten der Angeklagten.
Ob sich die Hinterbliebenen durch ein Ghostbike, das am Unfallpunkt und damit in der Nähe ihrer Wohnung aufgestellt wurde, nicht das Leben unnötig erschwerten, fragt die Richterin, weiterhin sehr einfühlsam. Sie werde dort ja täglich an das Geschehen erinnert und könne kaum Abstand gewinnen. Ganz das Gegenteil sei der Fall, erwidert die Witwe mit fester Stimme, das Ghostbike* erinnere sie und alle anderen Verkehrsteilnehmer immer daran, wie gefährlich es auf unseren Straßen zugehe und trage damit hoffentlich zu mehr Vorsicht bei.
* Sofern Kontakt zu den Angehörigen besteht, werden in Frankfurt keine Geisterräder gegen den Willen dieser aufgestellt.
>> Siehe dazu auch „Uffbasse“ im übernächsten Artikel