Jugend schraubt
Die neu gegründete Fahrradwerkstatt AG an der Ziehenschule bringt Schülerinnen und Schüler in mehrfacher Hinsicht voran
Mit dem Fahrrad selbständig mobil zu sein, bedeutet mehr, als in die Pedale zu treten und die Verkehrsregeln zu kennen. Auch eine Panne beheben zu können und zu wissen, wie so ein Fahrrad überhaupt funktioniert, ist essentiell – und das lernt man an besten sehr früh, finden Philip Wallmeier und Benjamin Becker, zwei junge Lehrer der Ziehenschule in Frankfurt-Eschersheim. Dort haben sie für die Schüler:innen in diesem Jahr eine Fahrradwerkstatt AG ins Leben gerufen.
„Die Kinder haben heute zu selten Gelegenheit, Erfahrungen mit praktischen Handgriffen zu sammeln, manche sind kaum in der Lage, einen Reifen aufzupumpen“, hat Philip Wallmeier beobachtet. Gegebenheiten, denen der Lehrer für Ethik, Politik und Wirtschaft, der sich selbst als leidenschaftlichen Fahrradpendler beschreibt, unbedingt etwas entgegensetzen wollte: eine AG, an der Schüler:-innen das Rad von A bis Z kennenlernen, um sich in möglichst vielen Situationen selbst helfen zu können!
Eine alte Küche wird zur Fahrradwerkstatt
Im Schuljahr 22/23 begannen Wallmeier und sein Kollege Benjamin Becker auszuloten, ob sich hier so etwas aufbauen ließe. Zunächst galt es, einen geeigneten, möglichst ebenerdigen Werkstattraum zu finden. Keine leichte Aufgabe an einer Schule, die – wie fast alle in Frankfurt – ständig mit Platznot konfrontiert ist. Die stillgelegte Küche der alten Schulmensa erwies sich schließlich als idealer Standort. „Die Schulleitung hat uns dabei sehr gut unterstützt“, berichtet Wallmeier, „die Ziehenschule hat für derartige Projekte sogar ein Budget, mit dem wir Werkzeug und Ersatzteile anschaffen können.“ Nicht für alles musste Geld fließen, einen Montageständer steuerte die Verkehrswacht Hessen bei, die Firmen Schwalbe und Continental spendeten jeweils Schläuche und Reifenheber, eine Standpumpe stiftete SKS.
So ausgestattet ging es im Schuljahr 23/24 los: Jeden Dienstagnachmittag zur 7. Stunde treffen sich etwa acht bis zehn Schüler:-innen, vor allem aus den Jahrgangsstufen 8 bis 10, die nicht nur Spaß am Radfahren, sondern auch am gemeinsamen Schrauben und dem Begreifen der mechanischen Prinzipien eines Fahrrads haben. Vorkenntnisse benötigt hier niemand. Es gehe auch nicht darum, Kinder und Jugendliche als Fahrradmechaniker auszubilden, sondern sie durch das Anleiten, kleinere Reparaturen selbst ausführen zu können, selbständiger zu machen. Dass dieses Konzept greift, bestätigt Julian, der in die zehnte Klasse geht: „In der Fahrradwerkstatt kann man lernen, wie man Fahrräder repariert und es ist nützlich, dass man auch das eigene Rad in Schuss bringen kann.“
Nur wer ein intaktes Rad hat, kann damit auch fahren
Letztlich liegt in der Fähigkeit, Pannen zu beheben und die Technik zu begreifen, aber auch der Schlüssel, häufiger Rad zu fahren – das Rad in der Stadt als Hauptverkehrsmittel zu nutzen: „Ist ein Rad erst einmal kaputt, verschwindet es oft für Monate im Keller, weil man sich selbst die Reparatur nicht zutraut, sich aber auch niemand darum kümmert, es in eine Werkstatt zu bringen“, weiß Wallmeier. Dadurch fahren auch Schüler:innen, die es eigentlich gern möchten, von heute auf morgen nicht mehr Rad. Hier schafft die Fahrradwerkstatt AG Abhilfe: „Indem wir die Kinder anleiten, einfache Reparaturen auszuführen wie Schläuche wechseln, Bremszüge austauschen oder die Kette erneuern, bekommen sie auch ihre eigenständige Mobilität zurück“ , begeistert sich Wallmeier, dem auch die verkehrs- und umweltpolitischen Aspekte des Radfahrens wichtig sind.
„Ein Fahrrad ist viel mehr als ein bloßes Fortbewegungsmittel – es macht unglaublich viel Spaß, sich damit sportlich auszutoben“, ergänzt Benjamin Becker und weist damit auf einen weiteren Aspekt hin, den sich die Fahrradwerkstatt AG auf die Fahnen geschrieben hat: etwas Konkretes gegen Bewegungsmangel vieler Kinder und Jugendlicher zu unternehmen.
Reparaturservice fürs ganze Kollegium
Die Reparaturen an den Rädern der Schulkinder müssen sie selbst ausführen, die beiden Lehrer dürfen nur zeigen, wie’s geht. Um selbst an Schüler:innen-Rädern schrauben zu können, müssen sie noch eine entsprechende Fortbildung des Kultusministeriums absolvieren, was auch vorgesehen ist. Freie Hand haben die beiden jungen Lehrer hingegen bei den Rädern ihrer Kolleg:innen, die in der AG-Werkstatt zur Reparatur abgegeben werden können. Philip Wallmeier sieht in diesem Service auch einen Beitrag zur Verkehrswende: „Wenn die Kollegen wissen, an der Schule bekommen sie im Fall einer Panne praktische Hilfe, macht das vielleicht auch den Umstieg vom Auto aufs Fahrrad leichter.“
Ein Fest zur Einweihung der Fahrradwerkstatt AG machte Ende Mai auf das Projekt und auf Fahrradmobilität insgesamt aufmerksam: Ein Testparcours bot Gelegenheit, die eigene Geschicklichkeit auf einem einspurigen Liegefahrrad zu testen, eine Kettenreinigungsstation leistete einen innovativen Beitrag zur Fahrradpflege – und auch die Verkehrswacht war da.
Langweilig wird es Lehrkräften und Schüler:innen der AG nach dem Fest auf keinen Fall, denn inzwischen ist ein anspruchsvolles Langzeitprojekt in den Fokus gerückt: Nur aus einzelnen Teilen soll ein komplettes Fahrrad zusammengebaut werden – ein einzigartiges „Ziehenschul-Fahrrad“. Einige Teile dazu befinden sich bereits in der Werkstatt: Rahmen und Gabel, dazu eine hydraulische Scheibenbremse. Dabei geht es den Lehrern nicht um ein schnelles Ergebnis, sondern darum, dass alle Beteiligten möglichst viel lernen und verstehen, indem Schritt für Schritt vorangegangen wird. Vielleicht veranstaltet die Fahrrad-AG ja im kommenden Jahr ebenfalls ein Fest, bei dem sie zu einer Probefahrt auf dem Ziehenschul-Fahrrad einlädt?