Einmal ans Nordkap und zurück
„Von Frankfurt zum Nordkap und zurück? Mit dem Fahrrad, aber ohne Flugzeug? Das ist doch Wahnsinn!“ – an solche und ähnliche Reaktionen gewöhnt man sich schnell, wenn eine anfangs abstrakte Idee immer konkreter wird. So viel vorweg: Es ist absolut kein Problem, aber es erfordert eine andere Art des Reisens. Der Weg wird zum Ziel und zum Erlebnis, selbst wenn man nicht die komplette Strecke radelt.
Im Sommer 2022 hatte ich mir vier Wochen Urlaub genommen, das Reiserad bepackt und endlich Finnland erkundet. Zuerst rund zwei Wochen Städte und das Nordkap besichtigen, danach nochmal zwei Wochen Radreise in der Natur. Aus Umwelt- und Stressgründen wollte ich dabei kein Flugzeug betreten. Wer schon mal versucht hat, mit einem riesigen Fahrradkarton zum Flughafen zu kommen, kennt die Probleme sicherlich.
So ging es von Frankfurt mit dem ICE entspannt nach Hamburg und dann, nach einer für eine Stärkung genutzten Pause, weiter nach Travemünde, wo die Fähre nach Helsinki leider streikbedingt erst einige Stunden später und nach einer ungemütlichen und ungeplanten Nacht in der wenig einladenden Wartehalle des Fährterminals abfuhr. In Finnland angekommen, spürt man gleich die andere Mentalität: alles ist etwas entspannter und mit einem Reiserad ist man natürlich auch hier herzlich willkommen. Ungewohnt war allerdings, dass man an einem Montagabend in der Landeshauptstadt mit rund 660.000 Einwohnerinnen und Einwohnern große Mühe hat, ein geöffnetes Restaurant zu finden. Tipp: Im Bahnhofsviertel kann man Glück haben!
Nach drei Tagen Großstadterkundung zu Fuß und mit dem sehr guten ÖPNV fuhren wir mit einem der für ihre hervorragende Qualität bekannten finnischen Nachtzüge nach Oulu. Die Fahrräder dürfen unkompliziert im separaten und großzügigen Fahrradwagen übernachten, Autos können in den Autowaggons mitgenommen werden. Ältere unter uns werden sich dran erinnern, dass es so ein Angebot früher auch von der Deutschen Bahn gab. In Finnland reisen auch heute noch viele Einheimische ganz selbstverständlich mit dem Autozug. Menschen dagegen können es sich, auf Wunsch auch inklusive tierischer Begleitung in Extrawagen, im Sitz oder Bett bequem machen. Die Laufruhe finnischer Züge muss man selbst erlebt haben, da schläft es sich nochmal besser als bei den ÖBB-Nachtzügen auf deutschen Schienen. Die neunstündige Fahrt im Luxus-Schlafabteil mit eigenem Badezimmer kostete dabei für zwei Personen und ein Fahrrad gerade mal 77 €.
Auch im Winter Radverkehr
Im ruhigen Stadtzentrum von Oulu erkennt man nicht auf den ersten Blick, dass hier der Radverkehrsanteil, trotz des knackigen Winters, im Jahresdurchschnitt bei > 20 % liegt. Sobald man aber ein paar Meter in eine beliebige Himmelsrichtung radelt, landet man zwangsläufig auf ungewohnt breiten Rad- und Gehwegen, die intensiv genutzt werden und auf denen man praktisch ohne anzuhalten kreuz und quer durch die Stadt radeln kann, die bei rund 200.000 Einwohner:innen etwa die 15-fache Fläche von Frankfurt hat. Alle paar hundert Meter gibt es, um die Wege kurz zu halten, z. B. Unterführungen unter den Schnellstraßen und man wird oft mit reichlich Abstand zu Straßen geführt. Poller sucht man hier übrigens vergebens, selbst breite Brücken für Fuß- und Radverkehr müssen nicht baulich geschützt werden.
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Von Oulu fährt ein Zug in die sehr touristisch geprägte Stadt Rovaniemi in der Nähe des Polarkreises. Von hier aus geht es nur noch per Bus oder Auto weiter Richtung Norden, sodass wir mit einem Mietwagen Richtung Nordkap fuhren. Dank des Tipps eines Fahrradhändlers vor Ort nahmen wir die 760 km lange Route entlang der schwedisch-finnischen Grenze, die weiter durch das atemberaubende Nord-Norwegen führte. Dank niedriger Tempolimits fuhr es sich sowohl entspannt als auch sehr sparsam. Die abwechslungsreichen Landschaften und die vielen Rentiere auf der Straße sorgten dafür, dass es unterwegs nicht langweilig wurde. Das Nordkap ist insgesamt etwas unspektakulärer, als man es vielleicht erwarten würde. Wir hatten aber Glück und konnten das kaum besuchte Kap inklusive der Aussicht sogar kurz in der Mitternachtssonne und ohne Nebel oder Regen genießen. Und wen trifft man zufällig dort? Natürlich einen ziemlich erschöpften Radreisenden aus dem Frankfurter Umland, der die komplette Strecke geradelt ist!
Nach dem Aufenthalt am zwischenzeitlich von Touristenmassen überschwemmten Ausflugsziel fuhren wir wieder zurück nach Rovaniemi, in dem die Radreise in Richtung Helsinki startete. Auf weitestgehend menschenleeren, aber sehr gut befahrbaren Straßen ging es für mich in die Einsamkeit der finnischen Wälder. Auffällig war, wie auch schon bei Radreisen in Schweden und Norwegen, die Rücksichtnahme im Straßenverkehr: bei Gegenverkehr überholen Autofahrende nicht einfach, sondern sie warten. Ergibt sich eine ausreichend große Lücke bei ausreichender Sicht, wird mit maximalem Abstand überholt. Ganz ohne Stress oder Gehupe, wie es in Deutschland leider auf Landstraßen üblich ist.
Bei der Radtour kam ich aus dem Staunen gar nicht mehr raus, weil sich über Tage hinweg Postkartenmotiv an Postkartenmotiv reihte. Ein See schöner als der andere (Finnland hat über 180.000 davon!), dazwischen Wälder, Ferienhäuschen und ein paar Rentiere. Wildcamping ist in Finnland erlaubt, sodass ich meistens draußen an Seen geschlafen und nur etwa alle drei, vier Tage ein Hotel genutzt habe. Die wirklich schönen Schlafplätze waren gar nicht mit dem Auto erreichbar, sondern nur mit geländegängigen Fahrrädern oder zu Fuß. Wer möchte, kann auch eine der vielen Schutzhütten nutzen, die es in Finnland überall gibt. Viele haben sogar gelagertes Brennholz, Feuerstellen und Toiletten vor Ort und sind in einem sehr guten Zustand.
Wasser gibt es überall
Die Wasserversorgung war kein Problem, weil in Finnland viele Supermärkte usw. entweder Toiletten oder gleich extra Zapfstellen für Trinkwasser anbieten – selbstverständlich ist beides kostenfrei, weil das Gemeinwohl großgeschrieben wird. Nebenbei spart man auch noch unnötige Plastikflaschen.
Nach dem hügeligen Übergang vom waldreichen Norden in den Süden wurde die Landschaft ganz plötzlich landwirtschaftlich geprägt, kurz darauf gab leider mein Tretlager mitten im Nirgendwo den Geist auf, sodass eine Weiterfahrt unmöglich war. Zum Glück gibt es aber auch im EU-Ausland den optional buchbaren ADFC-Pannendienst (siehe Info-Kasten), den ich somit testen durfte: die Vermittlung eines Abschleppdienstes klappte nicht so richtig, sodass ich mir nach mehreren Stunden Wartezeit auf Versicherungskosten ein Taxi in die rund 130 km entfernte nächste Stadt bestellen musste. Dank der telefonisch durchgegebenen GPS-Koordinaten konnte mich der ausgesprochen nette Taxifahrer immerhin finden, Straßennamen gab es dort weit und breit keine mehr. Alternativ hätte ich trampen können, aber wenn man als ADFC-Aktiver schon die Möglichkeit zu so einem Praxistest bekommt, kann man schlecht nein sagen! Nach mehreren Radreisen gewöhnt man sich auch an ungeplante Ereignisse, weil man weiß, dass es immer irgendwie weitergeht. Im Fahrradladen wurde mein Rad sofort repariert, obwohl die Termine auch dort auf Tage hinweg ausgebucht waren. Aber der Inhaber reist selbst regelmäßig per Fahrrad und konnte meine Notlage nur zu gut nachvollziehen.
Auch bei vielen anderen Zwischenstopps wurde ich von Einheimischen angesprochen, denen eigentlich eine starke Zurückhaltung gegenüber Fremden nachgesagt wird. Ein Reiserad weckt aber auch in Finnland die Neugierde, sodass sich einige tolle Gespräche und sogar Einladungen zum Saunieren ergaben. Auch mit den unterwegs getroffenen anderen Radreisenden gab es tolle Begegnungen, egal ob es sich um Finnen handelte, die nur wenige Tage radelten oder ob es der Franzose war, der schon seit drei Monaten alleine auf dem Weg Richtung Griechenland war und noch nicht wusste, was eigentlich sein Ziel sein wird. Auch für ihn war der Weg das Ziel.
Nach anderthalb Wochen im Sattel und einem wilden Mix aus Sonne, Hitze, Dauerregen, Bergen, Asphalt und sehr anstrengenden Sandpisten merkte ich, dass die von mir angepeilten 100 km pro Tag etwas zu optimistisch waren, um noch etwas entspannen zu können. Ich buchte mir also spontan ein Hotelzimmer in der nächsten größeren Stadt, genoss noch zwei wunderbare Tage und Nächte draußen und nahm dann doch den Zug bis nach Helsinki. Vor der Fähre traf ich diverse andere Radreisende aus mehreren Ländern, die entweder gerade starteten oder bereits am Ziel ihrer Tour waren. Nach der nächtlichen Fährankunft in Travemünde fuhr ich zusammen mit einer Schweizerin, die ich auf dem Schiff kennengelernt hatte, dank tollem Wetter spontan noch mit dem Rad nach Lübeck. Genau solche ungeplanten Begegnungen machen für mich eine gute Radreise aus, im Flugzeug ist so etwas kaum möglich. Von Lübeck ging es wieder pünktlich mit dem Zug nach Frankfurt. Netter Nebeneffekt: bei einer langsamen Rückreise kann man die Erlebnisse der Tour nochmal verarbeiten und wird nicht von jetzt auf gleich wieder zurück in den Alltag katapultiert.
Mehr Pausen einplanen
Fazit: Die Reise hat sich sehr gelohnt! Beim nächsten Mal würde ich allerdings auf die langen Fährfahrten verzichten und stattdessen versuchen, mit dem Zug bis an die schwedische Ostküste zu kommen und dort kurz nach Finnland überzusetzen. Das ist ähnlich schnell, kann aber deutlich günstiger und sehenswerter sein als der lange Weg übers Wasser. Außerdem würde ich mehr Zwischenstopps/Pausen einplanen, auch wenn es so weit im Norden außer den besuchten Wasserfällen nur wenige echte Attraktionen gibt.
Ansgar Hegerfeld
Info ADFC-Pannenhilfe
In der ADFC-Mitgliedschaft ist der Pannen- bzw. Abschleppdienst innerhalb Deutschlands inklusive. Für Reisen in Europa können ADFC-Mitglieder für 11,90 € pro Jahr die Zusatzversicherung ADFC-PannenhilfePLUS abschließen. Dadurch kann man im Schadensfall auch die Weiter-/Rückfahrt, Leihräder, Übernachtungskosten, Fahrrad-Rücktransport und Kranken-Rücktransport erstattet und schnelle Unterstützung bei verlorenen Dokumenten oder Bargeld bekommen.