Umleitung für die Verkehrswende
Das Volksbegehren für eine Verkehrswende in Hessen wurde für unzulässig erklärt. Wie geht es jetzt weiter?
Ein Beitrag von Sofrony Riedmann, Landesgeschäftsführer des ADFC Hessen e. V.
Ende September, genau einen Monat nach der fulminanten Sternfahrt von 12.000 Radler:innen nach Wiesbaden, gab es Gewissheit: Die Landesregierung lehnt den Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens, unterstützt von über 70.000 Hess:innen, ab. Es wird – zunächst – kein Volksbegehren und keinen Volksentscheid geben.
Wer verfolgt hatte, wie es kommunalen Bürger:innenbegehren in Hessen in den vergangenen Jahren ergangen war, konnte nicht wirklich überrascht sein. Ob Radentscheid Darmstadt, Radentscheid Frankfurt, Radentscheid Kassel, Mietentscheid Frankfurt oder Radentscheid Offenbach – immer war die Entscheidung der jeweiligen Stadtregierung: rechtlich unzulässig. Diesem Trauerspiel wird mit der Ablehnung unseres Zulassungsantrags für ein Volksbegehren nun ein weiterer Akt hinzugefügt, nur auf höherer politischer Ebene. Für das alles mag es im Einzelnen durchaus nachvollziehbare Argumente geben. Betrachtet man das Große und Ganze, wird jedoch deutlich: die direkte Demokratie in Hessen steckt in einer tiefen Krise. Und das nicht, weil sie von den Bürger:innen nicht genutzt wird, sondern im Gegenteil, weil sie so viel genutzt wird wie nie und sich nun zeigt, dass das, was direkte Demokratie verspricht, leider nicht eingehalten wird. Bürger:innen sollen mit direkter Demokratie ja eigenständige und verbindliche demokratische Entscheidungen unter Umgehung der (von ihnen) Gewählten treffen können. Dies gelingt nicht, denn in allen oben genannten Fällen kommen die Gewählten in dem Moment wieder ins Spiel, in dem das kommunale Bürger:innen- oder das landesweite Volksbegehren für rechtlich unzulässig erklärt wird. Inzwischen ist aus diesem Ablauf eine Art Ritual geworden an dessen Ende – im besten Fall – politische Gespräche zwischen Initiatoren und Gewählten stehen. Für den gerade laufenden Frankfurter Klimaentscheid lässt sich wohl kaum auf Besseres hoffen. Auf die Dauer, so muss man wohl befürchten, wird dieser immer gleiche Verlauf zu einem Vertrauensverlust gegenüber den Instrumenten der direkten Demokratie führen und ihre aktuelle Blütezeit, gemessen an der reinen Häufigkeit ihrer Nutzung, könnte schon bald zu Ende gehen. Da außerdem zu befürchten steht, dass der Vertrauensverlust dem politischen System insgesamt gelten könnte, wird eines ganz deutlich: der Landtagswahlkampf sollte auch für eine politische Diskussion um Reformen der direkten Demokratie in Hessen genutzt werden und diese müssen nach der Wahl angegangen werden.
Aber zurück zum Verkehrswende-Volksbegehren: Nach der negativen Entscheidung der Landesregierung war es notwendig, sich intensiv und mit anwaltlicher Beratung mit den Argumenten zu befassen, die zu der Einschätzung geführt hatten, unser Gesetzentwurf sei verfassungswidrig. So gibt die Landesregierung an, unser Gesetzestext sei an mehreren Stellen zu unbestimmt und greife in manchen Punkten in Bundesrecht ein. Wir sind uns jedoch weiterhin sicher, dass jeder einzelne Paragraf des Gesetzentwurfs sich verfassungskonform auslegen lässt. Daher ist Anfang Oktober vom Lenkungskreis des Verkehrswendebündnisses und den drei Vertrauenspersonen auch entschieden worden, Beschwerde gegen die Entscheidung der Landesregierung einzulegen, womit sich spätestens im kommenden Jahr der hessische Staatsgerichtshof beschäftigen wird.
Parallel zu dieser formal-rechtlichen Entwicklung ist seit der Sternfahrt auch auf politischer Ebene einige Bewegung in das Thema Verkehrswendegesetz gekommen. Ende September, kurz vor der Entscheidung der Landesregierung, hatte der Landtag über unser Verkehrswendebegehren debattiert. Erfreulich war, dass uns nicht nur von allen Redner:innen Respekt für unser zivilgesellschaftliches Engagement gezollt wurde; auch für unsere Inhalte erhielten wir grundsätzliche Unterstützung von fast allen Fraktionen – wenn auch nicht in gleichem Maße. Am Rande der Landtagsdebatte und in den Tagen danach führten wir Gespräche mit Vertreter:innen fast aller Fraktionen sowie mit dem hessischen Verkehrsminister Tarek Al-Wazir. Gemeinsam mit Abgeordneten von Grünen und CDU kündigte er einen Entwurf der Landesregierung für ein Gesetz an, das viele Inhalte unseres Verkehrswendegesetzes aufgreift und über das Schwarz-Grün noch in diesem Jahr mit uns sprechen möchte. Wir sind sehr gespannt darauf und freuen uns auf diese Gespräche.
Gleichzeitig ist auch deutlich geworden: Der Weg zu einem Gesetz, das die Verkehrswende in Hessen wirkungsvoll voranbringt, ist noch weit. Die Herausforderung für uns als ADFC und für das Verkehrswende-Bündnis insgesamt wird es in den kommenden Monaten sein, mit dem Thema Verkehrswende in der öffentlichen Diskussion zu bleiben. Wir sollten klarmachen, dass die Verkehrswende bei den multiplen Krisen, denen sich unsere Gesellschaft ausgesetzt sieht – Klima, Energie, Inflation – ein wichtiger Teil der Lösung sein kann und sein muss. Gerade den politischen Kräften, die noch skeptisch sind, müssen wir deutlich machen, dass von der Verkehrswende alle Bevölkerungsgruppen – jung oder alt, wohlhabender oder ärmer, in der Stadt oder auf dem Land – und auch die Unternehmen profitieren. Und wir müssen deutlich machen, wie breit der Rückhalt für die Verkehrswende in der Bevölkerung ist, was nicht zuletzt auch die Radentscheide oder die Begeisterung rund um das 9-Euro-Ticket gezeigt haben. Wenn uns das gelingt, kann aus der Verkehrswende-Kampagne, trotz der Umleitung, die wir nehmen müssen, ein großer Erfolg werden.
Sofrony Riedmann