Mein schönstes Ferienerlebnis
Auf ungewohnten Radfernwegen in die hessische Landeshauptstadt
Zum Ende der hessischen Sommerferien wird das Freizeitangebot noch einmal erheblich ausgeweitet: Per Fahrrad soll es nach Wiesbaden gehen, in einem gewaltigen Peloton, dessen Ausmaße auf normalen Radwegen nicht mehr zu bewältigen ist. Da bleibt nur die Autobahn, die glücklicherweise zwischen Frankfurt und der Landeshauptstadt ausreichend breit ausgebaut ist. So sammeln sich an einem Sonntag um die Mittagszeit tausende Radfahrende am Messekreisel und auf den umliegenden Freiflächen, um an diesem spektakulären Ereignis teilzunehmen. Und sie üben sich bis zum Start der Fahrt in Geduld, kontrollieren ihre Smartphones, begrüßen Bekannte, reparieren einen defekten Reifen oder blinzeln hinter ihren Sonnenbrillen einfach nur gelassen in die Runde.
Langsam, sehr langsam setzt sich der Zug der Radenthusiasten irgendwann in Bewegung. Weit vorne ist ein Blaulicht zu erkennen, das sich gemächlich Richtung Autobahn bewegt – das macht Hoffnung. Und wirklich, schon beim Passieren der Messehallen kommt der Tross in Bewegung, wird aus dem Schieben oder Rollern ein richtiges Radfahren. Die Stimmung ist ausgesprochen gut, am Straßenrand motiviert ein Trompeter mit dem italienischen Bella Ciao, einige Meter weiter steigen bunte Seifenblasen auf, von Brücken winken Spaziergänger. Das Peloton rollt. Bis kurz vor Eschborn, „zähfließender und stockender Verkehr auf der A648“ würde der Rundfunk melden. Der gerät jedoch wieder in Fluss, nachdem die Strecke breiter wird und der Radverkehr auf vier Kfz-Spuren plus Standstreifen übersichtlich abgewickelt werden kann. Leichtes Gefälle trägt dazu bei, dass die Zielzeit in Wiesbaden doch wieder in erreichbare Nähe rückt (was bis dahin bezweifelt wurde). Prompt stockt der Verkehr erneut, ein beeindruckender Stau von rund 10.000 Radfahrenden lässt die Zielzeit schnell wieder in weite Ferne rücken. Doch auch hier verschwindet das blaue Blinklicht, dass weit vorne mehr zu erahnen als zu sehen ist, hinter einer Kuppe – es entsteht Bewegung im Peloton, langsam löst sich der Stau auf und der Verkehr fließt über den glatten Asphalt des Krifteler Dreiecks, überholt nur hin und wieder von den Sanitätern des ASB und DRK auf ihren schweren Motorrädern. Weiter rollt der Tross an der Raststätte Weilbach vorbei, die jedoch nicht angesteuert werden darf, eine Rast ist untersagt. Trotzdem stehen Fahrräder zwischen den Tanksäulen und vor dem Kiosk oder den Toiletten, ohne dass die Polizei hier ordnend eingreift. Die an die Autobahn grenzenden Grünflächen werden für viele kurzzeitig zu Rastplätzen und Gebüsche zu Sanitäranlagen. Auf fast allen Brücken über die Fahrbahn oder an Zufahrten zu ihr stehen Passanten und winken begeistert dem friedlich, freundlich und gut gelaunt dahinrollenden Pulk. Daran kann auch der kilometerlange Stau, der das Peloton kurz vor der Abfahrt nach Wiesbaden noch einmal ausbremst, nichts ändern. Man begrüßt Freunde oder Bekannte, bewundert Kinder, die im Tross mithalten, freut sich mit der 88-jährigen über ihr neues E-Bike, stützt sich gegenseitig, um beim Fotografieren nicht von der Leitplanke zu rutschen und bleibt, mit Blick auf die Uhr, gelassen. Pünktlich werden wir in Wiesbaden sowieso nicht ankommen.
Doch wieder einmal signalisiert ein blaues Blinklicht, dass es weiter geht, dass die Autobahn bald verlassen wird, dass sich gleich Tausende auf der engen Kurve der Abfahrt drängen, bevor sie von einer breiten Schnellstraße aufgenommen werden. Noch einige hundert Meter steigt die Route an, dann geht’s bergab, mit Gejohle und hoher Geschwindigkeit durch einen Tunnel, an dessen Ende das Ziel schon fast erreicht ist. 16.10 Uhr zeigt die Uhr des Autors, nur um wenige Minuten hat er die Zielzeit verpasst – allerdings weit hinten im Peloton, dessen Spitzengruppe längst vor der Zeit auf der Festwiese gegenüber dem Wiesbadener Hauptbahnhof angekommen sein muss.
Und zurück nach Hause? Bleibt die Autobahn für Radfahrende gesperrt. Um dem Ansturm auf die S-Bahnen zu entgehen, verlassen einige die Stadt über die Biebricher Allee und werden dort erbarmungslos in die Realität deutscher Radverkehrsanlagen zurückgeholt, während sie über Bordsteine holpern oder Slalom um Bäume fahren. Wenn die letzte Hürde, die Schlange vor der Eisdiele am Rheinufer, überwunden ist, kann die Heimfahrt auf dem südlichen Mainradweg endlich beginnen. Der Weg ist zwar nicht so breit wie die Autobahn, aber inzwischen fast durchgängig mit einer guten Asphaltschicht versehen. Nutzt sie, bevor die Baumwurzeln wieder ihre Tätigkeit aufnehmen.
Peter Sauer