Wie Gedankenlosigkeit zur Lebensgefahr wird
Claudia Kipka
Die Verkehrswende ist ein großer Schritt zu mehr Inklusion
Nur noch wenige Wochen lang werden Unterschriften für das Volksbegehren Verkehrswende Hessen gesammelt. Als Interessenvertretung der Radfahrenden sehen wir im ADFC das Thema Verkehrswende vor allem aus der Sattelposition. Doch es gibt noch mehr Perspektiven. Barrierefreiheit und Inklusion sind hier wichtige Stichworte. Um diesen Standpunkten eine Stimme in der Öffentlichkeit zu geben, führten ADFCler in Oberursel, Steinbach und Königstein mehrere Interviews. Was erwartet eine Mutter von zwei Kindern imVorschulalter, der Bezirksvorsitzende des Sozialverbands Vdk in Frankfurt und eine gesellschaftlich stark engagierte Frau mit Sehbehinderung von der Verkehrswende? Mit Claudia Kipka, Jürgen Kremser und Brigitte Buchsein sprach Andreas Beck vom ADFC Oberursel. Die Befragten äußern sich konkret zur Situation im Hochtaunuskreis – aussagekräftig sind diese Stimmen aber zweifellos auch überregional.
Frau Kipka, warum braucht Kronberg eine Verkehrswende?
Claudia Kipka: Generell braucht ganz Deutschland eine Verkehrswende, allein schon um die Klimaschutzziele zu erreichen. Die Verkehrswende, die das Volksbegehren vorschlägt, schafft drastisch bessere Lebensqualität für alle. In Kronberg ist es so: Es sind sehr viele, sehr große Privatfahrzeuge (SUV) unterwegs. Ich finde, Kronberg ist zugleich eine fußgänger- und fahrrad-feindliche Stadt. In den letzten 60, 70 Jahren stand klar das Auto im Mittelpunkt der Verkehrspolitik. Meine Meinung ist, dass wir nicht auf nationale Vorgaben warten sollten, sondern jetzt vor Ort zeigen können, was möglich ist.
Herr Kremser, warum fordert der Sozialverband VdK eine Verkehrswende in Hessen?
Jürgen Kremser: Jede:r soll gleichberechtigt am Leben teilhaben, das sichert die sogenannte "Behindertenrechtskonvention" der UN verbindlich zu. Der VdK hat sich dem Trägerkreis des Volksbegehrens angeschlossen, weil die Verkehrswende ein großer Schritt zu mehr Inklusion ist. Ich bin seit zehn Jahren für den VdK tätig und sehe, dass da noch sehr viel zu tun ist, damit Menschen mit Behinderung teilhaben können. Viele Aktivitäten wären zum Beispiel mit Fahrrad oder Spezialrad möglich, aber die Infrastruktur ist nicht inklusiv, sie behindert. Selbstbestimmte Mobilität für Menschen mit Rollstuhl, Blindheit oder ähnlichen Einschränkungen bedeutet, dass diese ohne fremde Hilfe ihr Ziel erreichen können. Viele Menschen können den Autoverkehr aufgrund ihres Alters oder aufgrund einer Behinderung nicht selbst nutzen. Das gilt aber auch für Eltern mit Kinderwagen. Diese Bürger:innen benötigen sichere, barrierefreie und alltagstaugliche Verkehrssysteme. Da hapert es auch im Hochtaunuskreis und in Oberursel noch sehr.
Frau Buchsein, was ist Ihre Sicht zur Verkehrswende?
Brigitte Buchsein: Ich lebe seit 24 Jahren in Oberursel und bin aufgrund meiner Sehbehinderung auf den ÖPNV und Fußverkehr angewiesen. Oberursel ist glücklicherweise gut mitU- und S-Bahn angebunden. Abends und an den Wochenenden jedoch sind die Verbindungen ausgedünnt. Aber auch tagsüber sind Querverbindungen etwa nach Bad Vilbel oder Eschborn schlecht. Das sind Orte, die eigentlich nicht weit weg, aber per ÖPNV von Oberursel aus schlecht erreichbar sind. Deswegen sind viele Mitbürger:innen dann mit dem Auto unterwegs. Diese Möglichkeit habe ich so nicht.
Außerdem ist die fehlende Barrierefreiheit im Stadtgebiet ein Sicherheitsproblem: In manchen Situationen bin ich unsicher unterwegs, weil Blinden-Leitelemente auf dem Boden fehlen. So ist es nicht leicht, sichere Wege zu finden und nicht unbeabsichtigt gefährliche Stellen wie Straßen zu betreten.
Die sehr belebte Adenauer-Promenade in Oberursel mit gemischtem Fuß- und Radverkehr ist für Menschen mit Sehbehinderung problematisch, da eine Trennung von Fuß- und Radverkehr mit einem taktil wahrnehmbaren Trennstreifen fehlt. Auch weitgehend unstrukturierte Plätze wie der Epinayplatz sind immer problematisch, egal ob der Platz leer oder marktgefüllt ist. Der Stock vermittelt Bodenbeschaffenheiten und wenn das gut strukturiert ist, kann ich mich gut orientieren. Wenn aber Geschäftsauslagen auf den Markierungen platziert werden oder Markierungen fehlen, komme ich nicht selbstständig an mein Ziel.
Wo sind da die Schwierigkeiten, wenn man kein Auto nutzen kann oder will?
CK: Wir erleben das autofreie Leben nicht als Einschränkung, man muss eben etwas besser im Voraus planen. In der Altstadt von Kronberg gibt es nur sehr wenige öffentliche Parkplätze, daher ist man unterm Strich mit dem Rad oft schneller als mit dem Auto. Für Ausflüge mieten wir uns gelegentlich ein Auto. Das erscheint teuer, aber wir müssen ja nicht die laufenden Kosten eines eigenen Autos tragen.
JK: Der Altersdurchschnitt der vom VdK beratenen Menschen liegt bei etwa 72 Jahren. Diese beschreiben, dass die Zugänglichkeit zu wohnortnahen Einkaufsmöglichkeiten, medizinischer Versorgung usw. für Nutzer von Gehhilfen, Rollstühlen ein großes Problem ist. Die meisten Menschen finden das kaum in ihrem Wohnumfeld, weil Einkaufzentren häufig in Gewerbegebieten "auf der grünen Wiese" entstehen. Deren ÖPNV-Anschluss ist mitunter sehr schlecht und die Taktung des ÖPNV ist oftmals so, dass lange Wartezeiten bei jedem Wetter entstehen, oft ohne Witterungsschutz. Viele Menschen mit Behinderung benötigten kein eigenes, öffentlich gefördertes Auto, wenn der ÖPNV alltagstauglich funktionieren würde.
links: Die taktilen Elemente machen diesen Zebrastreifen behindertengerecht
rechts: Ein Platz, eine Straße, ein Zebrastreifen – aber Sehbehinderte können nicht erkennen, wo sie sicher unterwegs sind
Susanne Bittner
Das Volksbegehren "Verkehrswende Hessen" hat mehrere Zielstellungen. Welches Teilziel ist Ihnen persönlich besonders wichtig?
BB: Von den genannten Zielen geht es mir vor allem um den Ausbau des ÖPNV. Das ist mir das Wichtigste, danach der Fußverkehr, in jedem Fall um Barrierefreiheit.
JK: Dem VdK geht es auch vor allem um die Barrierefreiheit und den alltagstauglichen ÖPNV im Hochtaunuskreis, gerade auch außerhalb der Mittelzentren. Es gibt viele ländliche Gebiete, wo großer Handlungsbedarf besteht.
CK: Was mir wichtig ist, ist ein gleichberechtigtes Miteinander aller Verkehrsteilnehmer – also Kinder, Senior: innen, Menschen mit Behinderung, Fußgänger: innen, Radfahrende. Aktuell hat das Auto eine deutliche Dominanz, die alle anderen Menschen an den Rand drängt.
Warum ist der status quo im Hochtaunuskreis verbesserungsbedürftig?
CK: Uns fällt die krasse Benachteiligung von Radfahrern und Fußgängern auf. Am schlimmsten sind die engen, vollgeparkten, versperrten, vernachlässigten Fußwege. Darum müssen Fußgänger: innen, Kinder und Rollstuhlfahrer immer wieder die Gehwege verlassen und sich auf die unsichere Straße wagen. Das hält zum Beispiel viele Eltern davon ab, ihre Kinder mit dem Rad zur Schule zu schicken. Außerdem wird nach meinem Erleben bei Zebrastreifen oft nicht gebremst, selbst wenn offensichtlich Kinder oder alte Menschen dort warten. Leider nehmen viele Autofahrer: innen kaum Rücksicht auf die Mitmenschen im Verkehr.
links: Wie soll man den Zebrastreifen benutzen?Claudia Kipkarechts: Halten die Fahrräder genug Abstand zu Brigitte Buchsein?privat
BB: Ich fühle mich weniger gefährdet als eher orientierungslos. Im Vergleich zu anderen Sehbehinderten bin ich überdurchschnittlich sicher im Straßenverkehr, viele andere Betroffene sind viel weniger aktiv und unterwegs. Oft entstehen Sehbeeinträchtigungen erst im fortgeschrittenen Alter und dann ist die Neuorientierung mit dem Stock sehr schwer zu erlernen. Das bringt wahrscheinlich viele Sehbehinderte dazu, ganz auf eigene Wege zu verzichten. Das ist das Gegenteil von Inklusion!
JK: Die Geschwindigkeiten innerorts sind ein häufiges Problem. Da reicht ein Blick aus unserer Oberurseler VdK-Geschäftsstelle in der Eppsteiner Straße. Es gibt hier sehr viel Durchgangsverkehr, und viele Autofahrer verwechseln die Altstadtstraßen mit der A3. In Verbindung mit den oft sehr schmalen und unebenen Gehwegen ist das für benachteiligte Menschen ein großes Risiko. Es ist daher an vielen Stellen zu überlegen, ob man mehr Platz für Fuß- und Radverkehr dadurch schafft, dass Straßen in Einbahnstraßen umgewandelt werden.
Was hat sich in den letzten zwölf Monaten diesbezüglich in der Taunusregion schon getan?
JK: Was ich aktuell mitbekomme, ist tatsächlich, dass man bemüht ist, Schritt für Schritt die Lage zu verbessern. Aber man muss dranbleiben. Meine langjährigen Erfahrungen in der Kommunalpolitik zeigen, dass oft der Wille und angeblich die Mittel fehlen. Die aktuelle ökologische und Spritpreis-Lage zwingt uns zum Umdenken und zu Verhaltensänderungen – Stichwort "Elterntaxi", am liebsten bis ins Klassenzimmer. Da ist schon einiges passiert. Wir als VdK haben die Funktion, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen.
CK: Kronberg hat ein Nahmobilitätskonzept mit Bürgerbeteiligung erarbeitet und verabschiedet, da steht viel Gutes und Richtiges drin. Das Konzept weist durchaus in die richtige Richtung. Unklar ist mir, was wann und in welchem Zeitraum wirklich umgesetzt wird. Als Sprecherin des ADFC Kronberg bleibe ich zusammen mit einem Kollegen dran.
Wer profitiert neben Ihnen noch, wenn das Volksbegehren diesbezüglich erfolgreich ist?
CK: Alle, die nicht nur das Auto nutzen wollen oder das Zweitauto abschaffen wollen, alle, die sich im Straßenverkehr nicht sicher fühlen. Letztlich profitieren alle davon.
JK: Alle Menschen würden von einem inklusiven und nachhaltigen Verkehrssystem profitieren.
Welche Rolle könnte der individuelle Autoverkehr in Zukunft im Taunus spielen? Welche Verkehrsmittel benötigen mehr Förderung?CK: Die Erfahrung zeigt, dass da wo Autostraßen gebaut werden, der Autoverkehr zunimmt, und wenn Radwege gebaut werden, wächst der Radverkehr. Paris und andere europäische Großstädte zeigen eindrucksvoll, was machbar ist. Ich wünsche mir da mehr Mut von den Verantwortlichen vor Ort. Man sollte Sachen ausprobieren und schauen, was funktioniert, statt jahrelang nur darüber zu reden.
BB: Für größere Transporte (Möbel, Haushaltsgeräte) und Reisen mit viel Gepäck scheint das Auto sinnvoll, auch für manche Lücken im System des ÖPNV. Barrierefreiheit braucht mehr Förderung. Innovationen im Straßenverkehr (z. B. die E-Scooter) brauchen zuerst gute Regeln und dürfen erst dann den Zugang erhalten. Das andersherum zu machen, ist ein riskantes Spiel zulasten der Fußgänger mit und ohne Behinderung.
JK: Das Auto kann eine sinnvolle Rolle bei Reisen spielen, wobei die Bahn hier natürlich ebenfalls ein attraktives Angebot stellen sollte. Wenn die öffentliche Infrastruktur funktioniert, wird das Auto weitgehend unnötig und zum Luxusgut. Das Thema ist jedoch ideologisch sehr aufgeladen.