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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Artikel dieser Ausgabe

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Bild zum Artikel Mit dem Fahrrad kommt man in Paris am schnellsten voran
Nina Reitz, VCD München

Paris – Vive la Vélorution

Unter Bürgermeisterin Anne Hidalgo vollzieht sich in der französischen Hauptstadt eine echte Verkehrswende

Der Autor dieser Zeilen war bereits mit dem Fahrrad in Paris. Als Jugendlicher, es ist lange her, landete er mit drei Freunden mit dem Nachtzug am frühen Morgen am Gare de l'Est und durchquerte die französische Hauptstadt mit Sack und Pack in Richtung Normandie. Die Erinnerung daran ist leider etwas verblasst, im Kopf tauchen nur schwach Bilder von heillosem Durcheinander und holprigem Straßenpflaster auf, von Radwegen überhaupt nicht.

Ist man als junger Tourist in der französischen Hauptstadt noch einer gewissen Begeisterung für die (Auto-) Fahrkünste der Bewohner:innen und die hohe Kunst der Überwindung des täglichen Verkehrschaos' erlegen, hat sich diese Sichtweise auf die Stadt inzwischen drastisch gewandelt. Paris stinkt, Paris ist laut, die Straßen sind hoffnungslos verstopft, die Luft für Millionen Menschen eignet sich kaum noch zum Atmen. Höchste Zeit also, hier für eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen zu sorgen. Das versprach Anne Hidalgo, die sozialistische (im Deutschen würde man sozialdemokratische sagen) Bewerberin um den Posten der Bürgermeisterin, und wurde 2014 prompt gewählt. Ihr Programm: Paris soll klimaneutral werden, Paris soll eine gesunde Stadt werden. Um diese Ziele zu erreichen, müssen neben vielen anderen Maßnahmen die Belastungen durch den motorisierten Verkehr verringert werden – kurz gesagt: Autos müssen raus aus der Stadt, der Verkehr muss menschenfreundlicher werden. In taz futurzwei ist zu lesen: "(Hidalgo) spricht über die Lungen von Schulkindern, darüber, dass SUVs aufgrund ihrer Größe Erstklässler übersehen könnten, über Asthma an Autobahnen. Aus �gesundheitlichen Gründen� soll die Hauptstadt bald nur noch für Fußgänger und Radfahrer attraktiv sein."

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Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass in Paris in kurzer Zeit enorme Veränderungen vorgenommen wurden. Schnellstraßen entlang der Seine sind nun für Flaneure reserviert, tausende Leihräder rollen durch die Stadt, Radspuren wurden markiert und viele Kilometer Pop-up-Radwege, die im Corona-Jahr aufpoppten, sollen dauerhaft erhalten bleiben. Dazu wurde flächendeckend Tempo 30 eingeführt, mit Ausnahme weniger Hauptverkehrsadern. Allerdings lag die Durchschnittsgeschwindigkeit des motorisierten Verkehrs in den letzten Jahren sowieso nur bei ca. 12 km/h. Die Neue Zürcher Zeitung notierte: "Tagsüber kommt man im Stadtzentrum am schnellsten mit der Métro oder der S-Bahn (RER) voran oder mit dem Velo. "

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links: Vom Zug aufs Rad: Pedelecstation am Gare de l'Est
rechts: 1.400 dieser Verleihstationen finden sich im Großraum Paris

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links: Aus einer stark befahrenen Uferstraße entlang der Seine wurde eine Zone für Jogger:innen, Flaneure und Radfahrende
rechts: Kunststoffpoller schützen den Radstreifen und signalisieren, dass der Velo­verkehr hier Vorrang genießt

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links: (Noch) nicht überall ist die Infrastruktur perfekt, aber sie wird, wie hier am Hochufer der Seine, von Radfahrenden angenommen
rechts: Sonntags autofrei: Nina Reitz vom VCD München steht vor den mobilen Absperrungen an den Champs-Élysées

20.000 Fahrräder an 1.400 Verleihstationen

Wie gut man mit dem Velo wirklich in Paris vorankommt, wollte Nina Reitz vom VCD München genau wissen. Sie bestieg – ohne Fahrrad – morgens am Münchner Hauptbahnhof den TGV und war um die Mittagszeit in der französischen Metropole. Am Gare de l'Est machte sie sich mit dem Radverleihsystem "Vélib'" vertraut und und brach zu ihrer Erkundungstour durch Frankreichs "Radlhauptstadt" (wie sie es auf gut bayerisch ausdrückt) auf. Die Abbildungen auf dieser Seite zeugen davon. Alle Informationen in den folgenden Abschnitten haben wir einer Präsentation des VCD München entnommen, die Nina Reitz nach ihrer Parisreise erstellt hat (siehe Kasten).

"Vélib'" startete im Jahr 2007. Inzwischen stehen rund 20.000 Fahrräder (35 % davon mit elektrischer Unterstützung) an 1.400 Verleihstationen im Großraum Paris zur Verfügung. 400.000 Abonnent- :innen hatte das System 2020, im September dieses Jahres wurden 5,5 Millionen Fahrten gezählt – ein Rekordwert für einen Monat. Der Tagesrekord wurde am 11. September mit 215.000 Leihvorgängen registriert. Im Schnitt werden die Velos pro Tag für rund 110.000 Fahrten genutzt.

Vélib kann nur deshalb so erfolgreich sein, weil die Pariser Stadtverwaltung ehrgeizige Pläne für eine Radverkehrsinfrastruktur entwickelte. Der Platz dafür wurde dem Autoverkehr weggenommen – die Hälfte aller Parkplätze in der Innenstadt, rund 60.000, sollen verschwinden. Die chronisch verstopften Straßen sollen luftiger werden, mehr Raum für Flaneure und Velos bieten. Immerhin hat sich der Modal Split, die Nutzung der verschiedenen Verkehrsarten, rasant zugunsten des Radverkehrs entwickelt. Hatte dieser 2010 noch einen Anteil von 3 % am Verkehrsaufkommen, lag er 2021 bereits bei 23 %.

Grünflächen statt Parkplätze

Darüber, dass der Autoverkehr eingeschränkt werden muss, herrscht unter den meisten Bewohner:innen der Stadt Einigkeit. Paris ist mit 20.000 Einwohnern/km2 die dichtestbesiedelte Großstadt Europas (zum Vergleich: im engen Frankfurter Nordend leben 11.682 Einw./km2). Viele Städter besitzen gar kein Auto, sind aber den Belastungen durch den Verkehr täglich ausgesetzt. Da erscheint es nur folgerichtig, dass die Pariser:innen ihr Herz für einen grünen Umbau der Stadt entdeckt haben. Und der schreitet voran: Gegen Falschparker wird mithilfe von Videoüberwachung vorgegangen, besonders auf Radwegen und Busspuren. Parkplätze werden zu Grünflächen, mit Gemüsebeeten und Spielplätzen. Und selbst die berühmte Rue de Rivoli wurde zu einer Fahrradstraße umgewandelt. Dazu veröffentlicht die Stadt Routenpläne für Radwege, in denen selbst die Pop-up-Bike-Lanes der Coronazeit dargestellt sind – 45 km kurzfristig markierte Velorouten, die für eine Zunahme des Radverkehrs um 66 % seit Beginn der Pandemie gesorgt haben. Bis zum Jahr 2026 sollen gar weitere 180 km dauerhafter Radstreifen folgen und die Zahl der Abstellplätze soll auf 180.000 verdreifacht werden. Darüber hinaus sollen ab 2024 keine Dieselfahrzeuge mehr in Paris unterwegs sein, ab 2030 dann gar keine Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotor.

Sie machen also Ernst in Paris. Der Spiegel schreibt: "Wofür Amsterdam und Kopenhagen Jahrzehnte brauchten, vollzieht sich in Paris gerade im Zeitraffer. Hidalgo holt das Fahrrad vom Rand ins Zentrum der Verkehrsinfrastruktur." Aber nicht nur das Fahrrad, auch die Flaneure holt sie zurück: "La mairie de Paris veut faire du cœur historique de la capitale une zone quasi-piétonne en 2022."

Quellen:

Die reich bebilderte Präsentation von Nina Reitz' Parisbesuch steht auf der Webseite des VCD München zum Download zur Verfügung: www.vcd-muenchen.de/debatte

taz futurzwei, No 19/2022: "Notre Anne von Paris"

Neue Zürcher Zeitung vom 31.08.2021: "Weshalb 'Tempo 30' in Paris den Verkehrsalltag nicht gross verändern wird"

Der Spiegel, 31.10.2021: "Anne Hidalgo zeigt, wie die Verkehrswende gelingt"

Weitere Infos über "Paris, capitale mondiale du vélo" gibt es (in französischer Sprache) unter: adfc-ffm.de/=KgzB

Peter Sauer