Fahrradstraße außerorts? Aber sicher!
Wie eine Landesbehörde den Fortschritt zu verhindern sucht – ein Schmankerl für verkehrsrechtliche Feinschmecker
"Ham wer net." – "Wolln mer net." – "Ham mer noch nie gemacht." – "Da könnte ja jeder kommen." Wer kennt sie nicht, die kleinen Ausreden der Bürokratie. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der umweltfreundliche und gesunde Radverkehr behindert werden kann, soll hier erzählt werden.
Der Klingelwiesenweg – "Promilleweg" oder nicht doch lieber Fahrradstraße?
Karl Pfeil
In Karben besteht zwischen der Niddabrücke im Stadtteil Okarben und der Landstraße nach Burggräfenrode eine rund 1,3 Kilometer lange Straße, der Klingelwiesenweg. Dieser wird seit vielen Jahren von den Anlieger*innen, die Landwirtschaft betreiben, gärtnern oder ihrem Sport nachgehen, als Berechtigten genutzt. Hinzu kommt – noch, aber vor allem – der Autoverkehr, für den die Straße einen willkommenen "Promilleweg" darstellt.
Als im Jahr 2017 in der Stadt Karben die Idee die Runde machte, diese relativ gut ausgebaute Straße in eine Fahrradstraße umzuwidmen, unterstützte der ADFC Bad Vilbel dieses Vorhaben mit einer kleinen Ausarbeitung, die zeigt, wie diese Fahrradstraße ausgestaltet werden könnte. Diese Präsentation wurde mit der Methode "Flaschenpost" (siehe Frankfurt aktuell, Ausgabe 2/2020) unter die Beteiligten gebracht. Und siehe da: Die Stadtverordneten beauftragten den Magistrat, die Umwidmung in die Wege zu leiten. Umgehend machte sich der fahrradaffine Verkehrsplaner der Stadt ans Werk und erstellte einen Ablaufplan.
Doch damit begannen die Schwierigkeiten. Ein großer Teil des Klingelwiesenwegs verläuft nicht innerorts. (Im gegenteiligen Fall hätte in Karben als einer Stadt mit weniger als 50 000 Einwohnern der Bürgermeister das alleinige Recht, verkehrsrechtliche Anordnungen zu treffen.) Deshalb war die Stadt gezwungen, gemäß der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung die Polizei zu "hören" – was bedeutet, dass die Polizei um eine fachliche Stellungnahme gebeten werden muss.
Um solche Stellungnahmen abgeben zu können, unterhält die zuständige Polizeidirektion einen Regionalen Verkehrsdienst (RVD). Dieser erkennt, dass er rechtliche Bedenken hat, und kann damit die geplante Förderung des Radverkehrs ausbremsen. Doch schauen wir uns diese rechtlichen Bedenken einmal genauer an.
Der RVD führt Zahlen aus dem Jahr 2015 an, um damit seine Aussage zu untermauern, "dass der Radverkehr nicht die vorherrschende Verkehrsart" sei. Das hat auch niemand behauptet. Allerdings geht der aus der entsprechenden Passage der Verwaltungsvorschrift zitierte Satz folgendermaßen weiter: "... oder dies alsbald zu erwarten ist."
Verkehrsplanung ist naturgemäß in die Zukunft gerichtet, also eher in Richtung 2025 und keinesfalls auf den vergangenen Zustand von 2015. Auch die Stadt Karben verfolgt das Ziel, den Radverkehr zu fördern. Es stellt sich daher die Frage, wie der RVD diesen Satzteil nur übersehen konnte?
Jetzt hat der RVD auch die Aufgabe, die "Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs ausreichend zu berücksichtigen" – und dies tut er mit voller Kraft. So liegt die Vermutung nicht fern, dass es dem RVD letztendlich nur darum geht, dass auf dem Klingelwiesenweg weiterhin 50 km/h gefahren werden können statt wie bei einer Fahrradstraße 30 km/h. Will man wirklich wegen 20 km/h die Sicherheit des Rad- und Fußverkehrs gefährden? Bei dem bekanntermaßen geringen Kraftverkehrsaufkommen auf dieser Strecke ist ein Verweis auf die parallel verlaufende Nordumgehung als alternative Strecke mehr als zumutbar – die im Übrigen mit Millionenaufwand gebaut wurde, auch zwecks Entlastung Okarbens. Dass der RVD in seiner fachlichen Stellungnahme hingegen vorschlägt, zwischen der Nordumgehung und dem Klingelwieseweg zusätzlich noch einen Radweg für mehrere hunderttausend Euro zu bauen, macht ihn zum Kandidaten für die Rubrik "Der Irrsinn der Woche" in der Satiresendung "Extra 3".
Ferner führt der RVD als Hinderungsgrund an, dass die Verkehrsbehörde, hier die Stadt Karben, eine Anordnung einer Fahrradstraße außerorts nur dann treffen dürfe, wenn auf der Strecke eine "qualifizierte Gefahrenlage" gegeben sei. Diese läge im Klingelwiesenweg jedoch nicht vor. Wie erklärt aber der RVD die vorhandene Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h? Dies ist nichts anderes als eine Beschränkung des fließenden Verkehrs, die wiederum nach � 45 Abs. 9, Satz 3 der Straßenverkehrsordnung nur bei Bestehen einer qualifizierten Gefahrenlage angeordnet werden darf. Logische Konsequenz: Wenn die Fahrt auf dem Klingelwiesenweg tatsächlich gefährlich ist, dann darf die Stadt als Verkehrsbehörde hier auch eine Fahrradstraße anordnen. Doch abermals lohnt es sich, die StVO näher zu studieren. Ist dort doch im nächsten Satz Folgendes zu lesen: "Satz 3 gilt nicht für die Anordnung von ... 2. Fahrradstraßen ..." Hier hat der RVD einen ganzen Satz ignoriert.
Wie diese beiden Beispiele zeigen, ist diese "fachliche Auskunft" rechtlich nicht zu halten. Der ADFC Bad Vilbel/Karben hat dies in einem Schreiben an die Polizeidirektion Friedberg erläutert und erhielt postwendend eine Antwort. Die Polizei sei in diesen Fragen nur "beratend" tätig und jede Kommune in ihrer Entscheidung autonom. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn in Wirklichkeit hat jede Kommune bei anderweitiger Entscheidung eine Anzeige der Polizei bei der Kommunalaufsicht zu befürchten, und diese wiederum entscheidet in Zweifelsfällen in der Regel im Sinne der Polizei.
Die Stadt Karben hatte die Umwidmung als Pilotprojekt konzipiert und sich auch schon der wissenschaftlichen Begleitung durch die TU Darmstadt versichert. Auch die AG Nahmobilität im Hessischen Verkehrsministerium hat Unterstützung signalisiert.
Doch die Dinge schreiten fort, und die rückwärtsgewandte Denkweise des RVD fällt aus der Zeit. Inzwischen wurde die StVO novelliert, und siehe da, es findet sich etwas für unser Anliegen. Es trifft sich gut, dass in der seit dem 28. April 2020 geltenden Fassung der StVO der genannte � 45 Absatz 9 Satz 4 dahingehend erweitert wurde, dass in der neuen Nr. 7 "Erprobungsmaßnahmen nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zweiter Halbsatz" ebenfalls von den Beschränkungen des Satzes 3 dieser Vorschrift ausgenommen sind. Danach haben Verkehrsbehörden (das ist im gegebenen Fall die Stadt Karben) das Recht, die Benutzung bestimmter Straßen zu beschränken, zu verbieten und umzuleiten, wenn dies der "Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen" dient.
Diese Kostprobe aus der verkehrsrechtlichen Feinschmeckerküche haben wir dem RVD nicht vorenthalten. Eine inhaltliche Reaktion ist bis Redaktionsschluss ausgeblieben. Vor allem aber haben wir die Stadt Karben aufgefordert, diese Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. In der Fußballersprache: Wir haben den Ball auf den Punkt gelegt, jetzt macht ihn auch rein! Nun sind wir gespannt, ob es gelingen wird, die Bürokratie mit ihren eigenen Mitteln zur Mitarbeit an der Verkehrszukunft zu bewegen.
Karl Pfeil