Corona – Schub oder Last für die Verkehrswende?
Kein Lebens- oder Politikbereich bleibt durch die gegenwärtige Pandemie derselbe. Auch der Verkehr nicht, darüber haben wir in der vergangenen und dieser Ausgabe von Frankfurt aktuell ja ausführlich berichtet. An dieser Stelle wollen wir einen Blick in die nächste Zukunft wagen: Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Verkehrswende, die wir so dringend benötigen? Wir lassen zwei Frauen und zwei Männer zu Wort kommen, die sich mit dieser Frage intensiv beschäftigen.
�Der Rückgang des motorisierten
Karin Müller, Vizepräsidentin des Hessischen Landtags, Bündnis90/Die Grünen
Das veränderte Verkehrsverhalten aufgrund von Covid-19 ist für die Verkehrswende Chance und Risiko zugleich. Durch die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hat die Digitalisierung einen Schub bekommen, der auch für die Verkehrswende genutzt werden kann. Durch mehr Homeoffice-Arbeitsplätze kann auch in Zukunft unnötiger Verkehr vermieden werden. Gleichzeitig sind die Fahrgastzahlen bei Bussen und Bahnen überproportional zurückgegangen. Gewinner war der Individualverkehr, erfreulicherweise das Fahrrad, aber auch der Autoverkehr ist nicht in dem Maße zurückgegangen, wie die Nutzung von Bus und Bahn. Das ist auch erstmal verständlich, da die Menschen Angst vor Ansteckung haben. Jetzt gilt es aber, wieder Vertrauen für Bus und Bahn zu schaffen. Zum einen durch Kampagnen und Informationen zum Thema Ansteckungsgefahr. Aber auch hier kann die Digitalisierung genutzt werden. Mit einer Auslastungsanzeige – wie sie die Bahn im Navigator hat – könnte man auch bei den lokalen und regionalen Bussen und Bahnen entscheiden, welches Verkehrsmittel man wann nehmen will. Für eine bestimmte Zeit sind dann halbvolle Bahnen volle Bahnen. Die Einnahmeausfälle bei Bussen und Bahnen für die Corona-Zeit müssen und werden voraussichtlich auch von Bund und Land übernommen werden.
Für das Verkehrsmittel Fahrrad ist die Krise eindeutig eine Chance. Mehr Menschen denn je fahren mit dem Rad, die Vorteile, die Radler*- innen schon immer schätzen, erkennen immer mehr Menschen. Radfahren ist schnell und bequem, und man ist an der frischen Luft, bewegt sich, stärkt das Immunsystem und die Kosten sind gering.
Auch wenn noch keine konkreten Zahlen über die Fahrradnutzung während der Corona-Krise vorliegen, vermitteln die Berichte der Fahrradhändler einen deutlichen Eindruck, wo es hingehen kann. Und daran liegt auch die Chance. Wenn, wie von Professor Blees in Darmstadt gezählt wurde, der Rückgang des motorisierten Individualverkehrs bei rund 30 Prozent liegt und die Lebensqualität sich dadurch so erheblich verbessert hat, dann ist das für alle ein lohnendes Ziel, an dem es zu arbeiten gilt.
Auf Landesebene setze ich mich gerne weiter dafür ein, Busse und Bahnen weiter zu stärken. Dabei finde ich es wichtig, Verkehrsmittel nicht gegeneinander auszuspielen, sondern alle Menschen dafür zu gewinnen, dass es erstrebenswert ist, immer die Wahl des für die Situation und den Moment besten Verkehrsmittels zu haben, aber auch sich für lebenswerte Städte und ländliche Regionen einzusetzen und beides als Ergänzung zu sehen. Gerade wenn jetzt mehr Menschen raus aus der Stadt wollen, gilt es, gute Verbindungen mit Bus und Bahn zu schaffen, damit nicht das Auto die einzige Alternative ist.
�Das Land muss dafür sorgen, dass den Kommunen genügend Geld für die Verkehrswende zur Verfügung steht.�
Robert Wöhler, stellvertretender Landesvorsitzender des ADFC Hessen
Die Corona-Krise beeinflusst alle Lebensbereiche. Auch im Verkehr ist starke Veränderung zu spüren: so ging zu Beginn der Krise der Verkehr merklich zurück, die Straßen wurden leerer und auch die Kondensstreifen am Himmel sind weniger geworden. Mittlerweile werden viele Einschränkungen gelockert und auch der Verkehr nimmt wieder zu. Viele, die das Rad zunächst als Freizeitaktivität in Zeiten der strengen Kontaktbeschränkungen für sich entdeckt haben, nutzen es jetzt auch für die wieder stattfindenden Fahrten zum Arbeitsplatz. Die neuen Radpendler*innen dürfen nun nicht durch schlechte und überfüllte Radwege wieder vom Fahrrad gedrängt werden. Daher braucht es einen zeitnahen Ausbau der Fahrradinfrastruktur. Die Forderung nach mehr Platz für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen ist in Zeiten von Corona nicht nur eine verkehrspolitische, sondern auch eine gesundheitspolitische: trotz aller Lockerungen gilt weiterhin, ausreichend Abstand zu halten – nur so lässt sich eine erneute Ausbreitung des Virus verhindern. Doch insbesondere auf den schmalen und unzureichenden Fuß- und Radwegen in vielen hessischen Kommunen sind diese Regeln kaum einzuhalten. Weltweit haben Städte wie Berlin, Brüssel, Paris, London, New York, Mexico-Stadt und Bogotá innerhalb weniger Tage reagiert und Autospuren in sichere und attraktive Fahrradspuren umgewandelt. In Hessen: Fehlanzeige!
Dabei zeigen ausverkaufte Fahrradhändler, starke Medienberichterstattung über das Thema Fahrrad und eine große Beteiligung an ADFC-Demos für Popup-Bikelanes: gerade jetzt fordern immer mehr Menschen die Verkehrswende mit dem Fahrrad im Mittelpunkt! Nun muss die Politik handeln und die Verkehrswende umsetzen. Dabei sind vor allem die Kommunen gefragt – denn der notwendige Ausbau der Fahrradinfrastruktur liegt größtenteils in deren Verantwortungsbereich. Doch neben dem teilweise fehlenden politischen Willen könnte auch die Finanzierung der Verkehrswende zum Problem werden, denn krisenbedingt ist mit verminderten Steuereinnahmen zu rechnen. Daher ist nun das Land aufgefordert, dafür zu sorgen, dass den Kommunen genügend Geldmittel für die Verkehrswende zur Verfügung stehen. Neben der Finanzierung ist das Land auch bei der Festlegung der Rahmenbedingungen für die Verkehrswende gefordert. Mit dem Volksentscheid für ein Hessisches Verkehrswendegesetz wollen der ADFC und andere Organisationen wie dem VCD und FUSS e.V. dem Land den Rücken stärken und für verbindliche Vorgaben für die Verkehrswende sorgen. Trotz coronabedingter Verzögerungen sind wir bei unserem Vorhaben auf einem guten Weg.
Mit verbindlichen Vorgaben, einer ausreichenden Finanzierung und mutigen Politiker*innen kann die Verkehrswende trotz Corona zeitnah umgesetzt werden. Als ADFC werden wir unser Möglichstes dafür tun!
�Nur ein breites Angebot mit sicherer Radinfrastruktur kann den Superstau in Frankfurt verhindern.�
Claudia Nora Fischer, AG Aktionen, ADFC Frankfurt
Die Folgen der Corona-Pandemie in Frankfurt waren eindrücklich und für alle für ein paar Wochen deutlich spürbar: saubere und klare Luft, kein Lärm, keine Staus. Stattdessen viel Platz zum Bewegen und Spielen oder auch einfach mal Ruhe. So könnte das Leben in Frankfurt nach einer erfolgreichen Verkehrswende aussehen.
Andere europäische Städte nutzen die Krise und den daraus entstandenen Schwung als Chance, ihre Verkehrspolitik und Planungsregime radikal zu ändern und agiler zu gestalten: Paris baut ein ganzes Netz aus neuen Fahrradwegen und schafft damit die Grundlagen für eine nachhaltige Mobilität in der Großstadt. Brüssel übergibt seinen Bürgerinnen und Bürger gleich die komplette Innenstadt und schafft den Menschen Vorrang. Berlin setzt im Zweiwochen-Rhythmus sogenannte Popup-Radwege um und beschert vielen Pendlern endlich die lang erhoffte geschützte Infrastruktur auf zumindest ein paar vormals brandgefährlichen Straßen durch die Stadt. Und weitere Städte ziehen nach: Stuttgart und München ordnen temporäre Radinfrastruktur an und erkennen die Chance in der Krise.
Mehr Platz für Menschen zu schaffen ist dank Corona kurzfristig umsetzbar. Planungen, die über Jahre hinweg in der Schublade lagen, erwachen nun und bilden den Start einer Verkehrswende, nach der sich alle gesehnt haben. Starre Planungen mit langen Studien im Vorfeld und wenig Fehlertoleranz bei der baulichen Umsetzung weichen, dank Corona, einer agilen Planung, die durch ihre Anpassungsfähigkeit das Lernen aus Fehlern ermöglicht und eine sich ständig verbessernde Infrastruktur für alle schafft. Temporär als Baustelle angeordnet, ermöglichen Popup-Radwege eine Erprobung in der Realität, wie sie vorher niemals hätte stattfinden können.
In Frankfurt ist die anfängliche Ruhe schon längst dem alltäglichen Stau und Lärm gewichen und fast scheint alles beim Alten. Und doch bewegt sich etwas in Frankfurt: Fahrräder. War es schon vor der Pandemie recht voll auf den Radwegen, so drängeln sich jetzt Radfahrende aller Altersklassen dicht an dicht auf den wenigen, für sie reservierten Wegen durch die Stadt. Und es werden immer mehr. Die Zweiradhändler melden eine noch nie dagewesene Nachfrage und leere Regale. Eine riesige Gelegenheit, die derzeit meist heimatlosen ÖV-Nutzer aus den Autos zu holen und auf das Fahrrad zu setzen.
Eine breite Angebotsoffensive mit sicherer Radinfrastruktur ist neben der stärkeren Bezuschussung des ÖV die einzige Möglichkeit, den Superstau in Frankfurt zu verhindern und die Verkehrswende weiter anzustoßen. Einzig die Abkehr von bisherigen Planungsprämissen und Prozessen kann einen nachhaltigen Wandel des Verkehrsmittels weg vom Auto schaffen. Alle anderen Versuche mit weiteren Kapazitäten für den MIV sind gescheitert und führen erwiesenermaßen zu noch mehr Stau. Ohne eine sichere Alternative werden die meisten radfahrenden Frankfurter*innen mittelfristig wieder auf den eigenen PKW setzen.
Nun muss die Frankfurter Politik Mut zeigen und den Planungsämtern die nötigen Ressourcen und Weisungen geben, damit diese ihrer Pflicht von sicheren Verkehrswegen für alle in der Stadt nachkommen können.
�Für alle, die an der Verkehrswende arbeiten, gilt es, diese historische Chance zu nutzen.�
Stefan Lüdecke, Referent des Verkehrsdezernenten Klaus Oesterling & Stabstelle Radverkehr im Verkehrsdezernat der Stadt Frankfurt
Wer im Januar 2020 prophezeit hätte, dass ab März die gesamte Bevölkerung erfolgreich aufgefordert wird, ihr Zuhause nur noch zum Einkaufen zu verlassen, dass Flugzeuge am Boden bleiben, fast ein ganzes Land ins Home Office geschickt und alle Kitas und Schulen geschlossen werden, den hätte man wahrscheinlich für verrückt erklärt. Dass die Bundesregierung in Rekordtempo einen Hilfsfonds in unbekannter Milliardenhöhe durchwinkt, ohne dass die Automobilindustrie ihre Kaufprämie bekommt, und die schwarze Null zumindest temporär außer Kraft gesetzt wird, lässt viele ungläubig die Augen reiben.
Vor uns vollzieht sich in ungeheurem Tempo eine gesellschaftliche Entwicklung, die wir wohl hätten in Ansätzen erahnen können, die aber jetzt mit voller Wucht durchschlägt. Unsere Präsenzpflicht am Arbeitsplatz wird für viele nicht mehr dieselbe sein. Weniger Menschen pendeln nun zu ihrem Arbeitsplatz. Und kommunale Verkehrspolitik steht mit allen anderen Politikfeldern vor einer Zeitenwende und vor der einmaligen Chance, diese Welle jetzt zu reiten und Veränderungen voranzutreiben, an denen wir schon lange arbeiten.
Damit meine ich zuallererst die Umverteilung von Verkehrsflächen: Überdimensionierte Straßenquerschnitte aus dem Zeitalter der autogerechten Stadt müssen umgestaltet werden. So manche Fläche, die für den Autoverkehr belegt war, können wir zugunsten von breiten Gehwegen und Radwegen auflösen, Bäume pflanzen und Cafés und Restaurants die Möglichkeit geben, in ehemaligen Parkbuchten Tische und Bänke aufzustellen. Das machen wir als Stadt schon seit einiger Zeit. In den letzten Jahren sind wir mit der Umsetzung deutlich schneller geworden. Die aktuelle Situation, in der alle aufs Rad steigen, offenbart aber ganz klar, dass wir noch mehr machen müssen. Viele Gehwege sind zugeparkt, Radwege zu schmal und Radfahrer*innen müssen häufig auf die Fahrbahn ausweichen. Es geht darum, den öffentlichen Raum zurück zu erobern, die Aufenthaltsqualität zu verbessern und eine emissionsfreie, nachhaltige Mobilität zu fördern.
Es stimmt: Die Steuerausfälle der Kommunen bedrohen anstehende Haushaltspläne und sorgen für Fragezeichen hinter längst sicher geglaubten Projekten. Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass diese einmalige Chance genutzt wird und auch beispielsweise Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung zum Radentscheid und die Bereitstellung der damit verbundenen Finanzmittel nicht in Frage gestellt werden. Die Kritiker einer Verkehrswende könnten dies zum Anlass nehmen, den erarbeiteten Konsens in Frage zu stellen. Das darf nicht passieren.
Es ist gerade der Ausbau der Radinfrastrukur, der vergleichsweise günstig ist und zügig umgesetzt werden kann. Ich wage eine Prognose: Die Radverkehrsanteile werden so schnell und so rasant steigen, dass der Ausbau der Radinfrastruktur kaum wird Schritt halten können.
Die letzten Monate haben uns gelehrt, dass weitreichende politische Entscheidungen durchaus in hohem Tempo beschlossen und umgesetzt werden können. Für alle, die an der Verkehrswende arbeiten, gilt es, diese historische Chance zu nutzen. Überzeugen Sie Ihre Freund*innen, Ihre Nachbar*innen und Ihren Ortsbeirat von den Vorteilen des Fahrrads in unserer Stadt. Lassen Sie uns die Stadt neu denken und die Fahrradstadt Frankfurt schaffen.