Karls Kolumne
Gefühlte Enteignung
Dieser Tage wird wieder eine altbewährte Sau durchs Dorf gejagt: das Tempolimit auf Autobahnen. Überall auf der Welt gibt es ein solches Tempolimit. Überall? Nein, ein Land im Herzen Europas leistet beharrlichen Widerstand. Hier, und nur hier, dürfen leidenschaftlich Rasende auch Leiden schaffen. Glaubt man dem amtierenden Verkehrsminister, so entspricht die Gefährdung von Menschen im Kfz-Verkehr auf der Autobahn dem "Menschenverstand". Er behauptet ein Recht auf unbegrenzte Geschwindigkeit.
In der Tat hat sich in der hergestellten öffentlichen Meinung ein vermeintliches Gewohnheitsrecht herausgebildet. Ähnlich emotional besetzt ist nur das Tragen von Waffen in den USA. Die Auswirkungen dort sind hinlänglich bekannt. Auch hierzulande wird nicht gerne von den Toten und Verletzten auf den Straßen durch zu hohes Tempo gesprochen. Auch hierzulande besitzen viele Leute Fahrzeuge mit hohem Leistungspotenzial und beanspruchen das Recht, dieses Potenzial auszureizen. Wird dieses Recht eingeschränkt, so gilt dies vielen als Wertminderung ihres Fahrzeugs und damit als versteckte Teilenteignung. Die medial angeheizte Empörung ist wiederkehrend – und stets riesengroß. Damit wird prächtig vom eigentlichen Problem abgelenkt – der ursächlichen Beteiligung des Kfz-Verkehrs an der Umweltbelastung mit Luftschadstoffen, Lärm und Flächenverbrauch.
Ein Tempolimit von 130 km/h hätte bei den Abgaswerten womöglich nur eher bescheidene Einsparungen zur Folge, wäre allerdings im Hinblick auf die Vermeidung von Unfällen ein großer Fortschritt. Doch die Autolobby versteht es, die Sucht nach hoher Geschwindigkeit als positiv darzustellen und die Forderung nach einem Tempolimit als Einschränkung von Freiheit zu etikettieren. Doch die Freiheit, andere Menschen zu gefährden, die gibt es nicht.
Aber auch wir Radfahrer/innen sind an den gefühlten Enteignungsbestrebungen beteiligt. Ich erinnere mich aus eigener Anschauung gut an die wütenden Proteste von Anwohnern, als "ihre" Straße, die als Einbahnstraße ausgewiesen war, für den Radverkehr in Gegenrichtung freigegeben werden sollte. Brächte dies doch den Wegfall einiger "ihrer" Parkplätze auf der Straße mit sich. Daneben wurde vor allem eine Wertminderung der Grundstücke und Häuser behauptet, also eine weitere Form von Enteignung. Letztendlich wurde die Freigabe beschlossen. Nicht bekannt ist, dass späterhin auch nur ein einziger der Protestierenden beim Sozialamt vorstellig geworden wäre.
Erst kürzlich hat eine Redakteurin der Deutschen Verkehrs-Zeitung die Empörung über ein Tempolimit medial unterstützt. Sie schrieb allen Ernstes von einem Grundrecht auf einen Parkplatz im öffentlichen Raum. Auch viele Anwohner selbst reklamieren dieses vermeintliche Grundrecht, indem sie ihre Fahrzeuge, Anhänger, Wohnmobile, Motorräder ausschließlich auf öffentlichen Straßen parken, während sie zugleich damit ihre Kfz-Garagen für die Lagerung sperriger Güter wie Kaminholz, Gartenmöbel, Grillgeräte oder Getränkekisten zweckentfremden.
Machen wir doch diesen "wertorientierten" Mitmenschen mal eine Gegenrechnung auf: In Deutschland sind fast 64 Millionen Fahrzeuge zugelassen. Für jedes davon wird aber nicht nur ein Abstellplatz vor der Wohnung beansprucht, sondern weitere vor dem Bäckerladen, dem Friseursalon, dem Supermarkt, dem Rathaus, der Postfiliale, der Bank ... Einigen wir uns auf drei Abstellplätze pro Fahrzeug. In der Verkehrsökonomie wird ein durchschnittlicher Betrag von 90 Euro pro neu angelegtem Abstellplatz errechnet. Dies ergibt den stolzen Wert von 17,3 Milliarden Euro. Den muss man auch erst mal haben. Aber diejenigen, die diesen öffentlichen Raum mit ihren Fahrzeugen besetzen, klagen lauthals über ihre gefühlte Enteignung.
Lassen wir uns nicht verunsichern: Ebenso wie sich ein Tempolimit positiv auf die Unfallbilanzen auswirkt, wirkt sich eine Förderung des Radverkehrs positiv auf die Umwelt und das Zusammenleben aus. Falls es den "gesunden Menschenverstand" je gegeben hat, so war er in den früheren Zeiten eng mit dem Begriff "Gemeinsinn" verbunden. Hierauf kann man sich gerne zurückbesinnen, um denjenigen entgegenzutreten, die auf ihre alternative Rechtsauffassung pochen und über "Enteignung" lamentieren.
Man kann es auch noch unter einem anderen Blickwinkel betrachten: Jahrzehntelang war es der Radverkehr, der auf den Straßen vorherrschte. Erst vor etwa 60 Jahren wurde begonnen, den öffentlichen Raum "autogerecht" zu gestalten und den Radverkehr auf Bürgersteige zu hetzen, wo er sich – sofern erlaubt – mit den Fußverkehr den restlichen Raum teilen darf. Wer, bitte schön, wurde hier "enteignet"?
Karl Pfeil