Wiedersehen mit Bremen
"Fahren Sie oder kommen Sie?", sprach mich eine unbekannte Stimme von hinten an, während ich mich über mein Fahrradschloss beugte. Die Dame im feinen Zwirn wollte ihr Luxusbike gut anschließen, bevor sie zum Ausgeben von ein wenig Kleingeld zu "Manufactum" ging.
Ich war gerade gekommen, froh darüber, die letzte freie Bügelhälfte ergattert zu haben. Für die Dame gab es immerhin noch ein Baumschutzgitter. Hier, direkt am Rathaus, sind Fahrradparkplätze begehrt, weiter außerhalb aber auch. Wohin ich auch komme, fast alle der zahlreichen Fahrradbügel sind schon belegt.
Ein Klassentreffen ist der Grund für ein verlängertes Wochenende in Bremen. Nach fünfzig Jahren Pause wollen die Abiturienten von 1968 alte Freundschaften wieder aufnehmen. Nach einigem Zögern erkennen wir uns auch alle wieder und wissen, was mit wem zu bereden ist. Es gibt noch mehr déjà-vu-Erlebnisse, vor allem beim Radfahren. Dieses zwanglose Miteinander im Verkehr hatte ich nach vielen Jahren ständigem Verkehrsstress in Frankfurt fast vergessen. Der hohe Radverkehrsanteil von 25 Prozent in Bremen macht sich bemerkbar. In Frankfurt sind es 15 Prozent und wir sind nicht ohne Grund stolz darauf.
Zuerst fiel mir auf, dass ich viel mehr aufpassen muss auf die vielen anderen Radfahrer. Auf dem Radweg mal eben nach links rüber, das geht gar nicht. Bestimmt ist jemand unbemerkt direkt hinter mir oder kommt gerade aus irgendeiner anderen Richtung angeradelt. Nachdem ich durch vornehme Zurückhaltung mehrmals zum Verkehrshindernis werde, begreife ich, dass die vierrädrige Konkurrenz ernsthaft bereit ist, meine Vorfahrt zu achten. Sogar an Stellen, für die ich keine Regel finden kann, nach der ich als erster dran wäre. Aufpassen muss man natürlich trotzdem. Direkt vor mir hätte ein Autofahrer, der vom Aldi-Parkplatz kam, um Haaresbreite einen Radfahrer mitgenommen, den er bereits vor der Nase hatte. Aber das war wirklich die Ausnahme.
Insgesamt ist das Klima für Radfahrer in Bremen deutlich entspannter als in Frankfurt und vielen anderen Städten, die ich kenne. Dabei gibt es keine futuristischen Bauten für den Radverkehr wie in Kopenhagen oder Amsterdam. Es gibt aber viele Fahrradwege, und zwar immer schon. Sie wurden nicht in den siebziger Jahren abgebaut und dann später mühsam den Verkehrsflächen der Automobilisten oder Fußgänger wieder abgerungen. Es gibt auch viele aufgemalte Verkehrsflächen für Radfahrer. Ganz frisch ist das am "Stern" zu sehen, einem innenstadtnahen Kreisverkehr, der von der Straßenbahn durchquert wird. Durch schraffierte Flächen werden die verschiedenen Verkehrsarten so deutlich voneinander getrennt, dass man sich gegenseitig auch sehen kann, wenn sich die Wege schon kreuzen. Über die neue Lösung wird heiß diskutiert, aber ich fand mich sofort zurecht und fühlte mich sicher. Dabei war der Platz schon ein Problemfall, als ich noch Schüler war.
Und wie gehen die zahlreichen Radfahrer miteinander um? Sie begegnen sich, sagen wir, auf tolerante Art. Sie fahren auf dem Radweg auch mal zu viert nebeneinander. Und über die vielen Geisterfahrer habe ich mich nur am ersten Tag aufgeregt. Wenn man damit rechnet, dass die anderen Radfahrer nicht nur von hinten, rechts und links, sondern jederzeit auch von vorne kommen können, dann fühlt man sich auch ganz wohl dabei. An jeder Ampel gibt es Gedrängel, aber für den Querverkehr der Radfahrer und Fußgänger wird doch irgendwie eine Gasse frei gehalten.
Es wird nicht unbedingt schnell gefahren. Das liegt zum Teil sicherlich an den zahlreich vertretenen gemütlichen Fahrrädern mit hohem Lenker und steiler Sitzposition. Es wird aber zügig gefahren. Man kurvt geschickt umeinander herum und hält so wenig wie möglich an.
Ein angenehmes Fahrgefühl. Frankfurt strebt die 25 Prozent ja für das Jahr 2025 an. Ich sehe jetzt schon voraus, was das bedeuten wird: ein entspanntes Miteinander mit mehr Sicherheit und Lebensqualität für alle Verkehrsteilnehmer.
Ingolf Biehusen