Zwischen Oberpfälzer und Bayerischem Wald zeigt der Tacho Kilometer 3.000 an
Foto: Paul Tiedemann
Grenzerfahrung
Eine Radtour mit dem Pedelec rund um Deutschland, Teil III
Unser Autor hat sich im ersten Teil seiner Grenzerfahrung entlang der deutsch-französischen und luxemburgischen Grenze nach Norden bewegt. An der Nordseeküste traf er im zweiten Teil mit einem Freund zusammen, der ihn ein paar Tage auf seiner Grenzland-Tour begleitete. Wir drucken hier, als Fortsetzung der Reise, den Bericht von einigen Etappen im deutsch-tschechischen Grenzgebiet und in Bayern ab.
(die Redaktion)
Sonntag, 10. Juli (50. Tag)
Hohenberg – Bärnau
52,14 km
Zur Abwechslung geht es heute mal nicht gleich vom Hotel ab steil nach oben. Hohenberg liegt auf einer Passhöhe und deshalb geht es erst mal bergab nach Schirnding. Wo genau das Fichtelgebirge endet und der Oberpfälzer Wald beginnt, konnte ich nicht ermitteln. Jedenfalls beginnen schon bald endlos lange Anstiege und Bärnau, so viel ist sicher, liegt im Oberpfälzer Wald.
In dieser Gegend war ich schon einmal mit dem Rad unterwegs. Das war im Jahre 1963 und ich stand kurz vor meinem 13. Geburtstag. Damals weckten meine Eltern in mir die Liebe zum Radwandern, die mich seither nie mehr verlassen hat. Die ganze Familie fuhr mit dem Auto nach Weiden in der Oberpfalz. Dort wurden die Fahrräder meines Bruders, der damals 10 Jahre alt gewesen ist, und mir vom Autodach genommen und wir fuhren erst mal in die dortige Jugendherberge, wo wir schon wegen unseres jungen Alters als Exoten galten. Am nächsten Tag fuhren wir dann allein Richtung Süden. Meine Eltern fuhren parallel mit dem Auto und ausgemacht war, dass wir uns am Zielort wieder treffen wollten. Meiner Erinnerung nach war das in Waldmünchen. Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls kamen wir nach Regen und die Reise endete in Passau. Seit dieser Reise habe ich mehrere Jahre lang jedes Jahr eine Radtour gemacht.
Um 13:30 Uhr komme ich in Bärnau an. Es waren 51 km und ich musste den Akku nicht nachladen. Ich werde morgen nach Schönsee (45 km) fahren und übermorgen nach Furth im Wald. Dort werde ich dann einen Tag pausieren. Nach meiner Ankunft im Gasthaus Zur Post lege ich mich erst mal ins Bett und schlafe tief ein. Danach beschließe ich, mir noch das Freilichtmuseum über die Architektur des frühen Mittelalters anzuschauen.
Montag, 11. Juli (51. Tag)
Bärnau – Schönsee
51,12 km
Ich hatte mich vor der Reise gut vier Jahre mit der Strecke auseinandergesetzt, und insbesondere mit den östlichen Mittelgebirgen, die ich zu Recht für die größte Herausforderung ansah. Immer wieder habe ich mir über Google Maps und Google Earth die Strecke und die Landschaft angesehen. Ich hatte die Vorstellung, dass ich es geschafft hätte, wenn es mir gelänge, wenigstens Bärnau zu erreichen. Wenn man im Geiste immer wieder an einem Ort weilt, den man noch nie zuvor real betreten hat, ist es ein seltsames Gefühl, wenn man dann tatsächlich da ist.
Das Navi führt mich von Bärnau aus hart an der Grenze entlang durch ein riesiges Waldgebiet mit steilen Auf- und Abfahrten auf holprigen Waldwegen und Geröllpisten. Über ca. 12 km hinweg sehe ich nur Wald und keinen Menschen, außer einem Förster, der mir bestätigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Auch hier zeigt es sich, dass der dichte Wald in früheren Zeiten Böhmen und Bayern voneinander getrennt hat und eine genaue Grenzziehung nicht nötig erschien. Erst 1764 kam es zu einem Staatsvertrag zwischen Bayern und Maria Theresia in ihrer Eigenschaft als Königin von Böhmen, mit dem der genaue Grenzverlauf festgelegt worden ist.
Dummerweise glaubte ich mitten im Wald, nicht mehr dem Navi vertrauen zu müssen, weil es einen Weg durch Wurzelwerk vorschlug, wo geschoben werden musste. Um ein Haar hätte ich mich aber völlig verirrt. Was mich gerettet hat, war der Entschluss, umzukehren und dem Navi blind zu vertrauen.
Ich beschließe, bei nächster Gelegenheit die Straße zu benutzen, auch wenn das Navi einen kürzeren Weg vorschlagen sollte, der durch die Wildnis führt. Kurz vor Georgenberg komme ich dann endlich auf die Straße und folge dieser über Waidhaus und Eslarn bis nach Schönsee. In Schönsee finde ich eine schön gelegene Pension (Drei Seerosen).
Foto: Paul Tiedemann
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"Kurz vor der ersten Serpentine sehe ich dann plötzlich und unerwartet im Tal die Donau vor mir liegen."
Foto: Paul Tiedemann
Mittwoch, 13. Juli (53. Tag)
Schönsee – Furth im Wald
43,27 km
Gestern ging es von Schönsee nach Furth im Wald, also von den Hängen des Oberpfälzer Waldes bergab in die Cham-Further Senke. Hier trennt der Fluss Chamb den Oberpfälzer Wald vom Bayerischen Wald. Bevor ich mich an dieses letzte der Mittelgebirge mache, lege ich in Furth einen Ruhetag ein.
Eine Reise, die diesen Namen verdient, setzt für mich obligatorisch den Besuch eines Turmes und einer Höhle voraus (alle Freudianer werden jetzt jauchzen). Nachdem ich in Stralsund den Turm der Marienkirche erkraxelt habe, war heute die Höhle dran, und zwar die Felsengänge unter der Altstadt von Furth im Wald. Das ist aber auch die einzige Aktivität für heute.
Im Übrigen heißt es Erholung und Ruhe, nachdem ich 10 Tage durch die Mittelgebirge gefahren bin. Jetzt habe ich das Zittauer Gebirge, das Oberlausitzer Bergland, das Elbsandsteingebirge, die Sächsische Schweiz, das Erzgebirge, das Fichtelgebirge und den Oberpfälzer Wald hinter mir. Gestern bin ich um 9:33 Uhr, fünf Kilometer hinter Schönsee, den dreitausendsten Kilometer gefahren.
Donnerstag, 14. Juli (54. Tag)
Furth i.W. – Zwiesel
62,94 km
Heute ist ein sehr unangenehmer Tag. Nicht nur die endlose Steigung ab Lam, sondern vor allem das Wetter machen zu schaffen. Es regnet vom Start weg bis zum Ziel ununterbrochen und es ist saukalt. Was die Steigung angeht, so ist sie im Tour-Modus und 4. Gang bei ca. 12 km/h recht gut zu nehmen. Allerdings schrumpft der Energievorrat rapide. Ich bekomme es mit der Angst zu tun und stoppe bei der nächsten Gaststätte, um den Akku 80 Minuten lang auf 4/5 aufzuladen. Als ich weiterfahre, stellt sich dann allerdings heraus, dass es keine 7 km mehr bis zur Passhöhe bei 1.050 m sind. Dann geht es bis Zwiesel kontinuierlich bergab. Ich komme trotz der Rast um 15:10 Uhr am GlasHotel in Zwiesel an.
Freitag, 15. Juli (55. Tag)
Zwiesel – Philippsreut
57,52 km
Gestern auf 1.050 m und dann wieder runter nach Zwiesel. Heute 54 km permanent bergauf auf über 1.092 m und dann in das knapp 1.000 m hoch gelegene kleine Dorf Philippsreut. Beine bleischwer. Als ich zum Essen in den Gastraum gehe, ist alles voll. Die Menschen tragen teils Feuerwehruniformen, teils Sporttrikots. Sie trinken ein Bier und nach einer Stunde verlassen alle gleichzeitig das Gasthaus. War das der Freitagsstammtisch der örtlichen Vereine, frage ich den Wirt. Nein, sagt er, das sind die "Kirchenschwänzer". Heute feiert der Sportverein sein 50jähriges Bestehen. Gerade war der Festgottesdienst. Jetzt gehen alle zum Festzelt.
Foto: Paul Tiedemann
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"Um 12:00 Uhr taucht die Spitze der Passauer Altstadt auf, da wo der Inn in die Donau fließt."
Foto: Paul Tiedemann
Samstag, 16. Juli (56. Tag)
Philippsreut – Obernzell
78,37 km
Heute geht es direkt vom Gasthaus in Philippsreut einen schmalen asphaltierten Weg abwärts, der aber schon bald in einen mit Geröll übersäten Waldweg mündet. Eine Alternative dazu gibt es aber bis Bischofsreut nicht. Als ich dort ankomme, will mich das Navi wieder auf einen Waldweg locken, obwohl es auch eine Straße gibt. Ich wähle letztere, biege aber statt nach links fälschlicherweise nach rechts ab. Jetzt hätte das Navi eigentlich zur Umkehr aufrufen müssen. Stattdessen akzeptiert es die neue Strecke mit der Folge, dass ich glaube, richtig zu fahren. Der asphaltierte Weg geht aber nach einigen Steigungen, die eigentlich nicht mehr zu erwarten waren, wieder in Waldwege über. Da ich völlig die Orientierung verloren habe, folge ich gehorsam dem Navi und wundere mich nicht schlecht, als ich nach einer Stunde wieder genau an dem Punkt in Bischofsreut ankomme, an dem ich rechts abgebogen bin. Ich habe einen sinnlosen Kreis gedreht. Jetzt fahre ich an der entscheidenden Kreuzung nach links statt nach rechts. Es geht nun bergab und zu einer Straße mit dem Hinweisschild nach Haidmühle.
Ab Altreichenau fahre ich nicht mehr parallel zur tschechischen, sondern parallel zur österreichischen Grenze. Hinter Breitenberg setzt dann noch mal ein langer Anstieg nach Wegscheid ein, das ich um 12:30 Uhr erreiche.
Ich verlasse Wegscheid und fahre erst mal an der Bundesstraße bergab bis zur Abzweigung nach Gottsdorf. Hinter Gottsdorf biege ich dann in die Straße ein, die in steilen Serpentinen abwärts nach Jochenstein an der Donau führt.
Kurz vor der ersten Serpentine sehe ich dann plötzlich und unerwartet im Tal die Donau vor mir liegen. Zum Glück gibt es genau hier einen Parkplatz mit Tischen und Bänken. Ich steige vom Rad, setze mich auf eine Bank und schaue hinunter zum Fluss. Da überkommen mich plötzlich die Tränen. Ich bin überwältigt von Erleichterung, Glück und Dankbarkeit. Mindestens vier Jahre bin ich diese Reise immer wieder in Gedanken gefahren und genauso lang war mir klar, dass die Mittelgebirge die größte Herausforderung sein würden. Je mehr ich mich im Geiste gerade mit dieser Strecke beschäftigte, umso unwahrscheinlicher erschien es mir, dass ich es schaffen könnte. Und jetzt kann ich es einfach nicht fassen. Ich habe es tatsächlich geschafft! Dass mir deshalb gleich die Tränen kommen, überrascht mich dann aber doch.
Ich staune und da kommt mir der Gedanke, dass es eigentlich nicht einfach nur der bloße Radler-Erfolg ist, der mich aus der Fassung bringt. Diese Reise steht, mehr als ich selber dachte, in Zusammenhang mit meinem ganzen bisherigen Leben.
Das überwältigende Gefühl von Glück und Dankbarkeit gilt meinem ganzen bisherigen Leben. Alles, was mir wirklich wichtig war und dem meine tiefste Sehnsucht galt, habe ich im Leben erreicht.
Bei alledem bin ich mir bewusst, dass all das, was ich erreicht habe, nur zum wesentlich geringeren Teil auf eigenem Verdienst beruht. Alle Mühe und Anstrengung wären vergeblich gewesen, wenn nicht zahllose Randbedingungen, die mir überhaupt nur zum Teil bewusst sind, erfüllt gewesen wären – Randbedingungen, die ich nicht erarbeitet habe, sondern die mir geschenkt worden sind.
In Obernzell tobt ein Volksfest bis morgens um 4:00 Uhr. Zum Glück habe ich Ohrenstöpsel dabei, mit deren Hilfe ich tief und lang schlafe.
Sonntag, 17. Juli (57. Tag)
Obernzell – Passau
16,64 km
Heute sind die letzten 16 km bis zu dem Ziel zurückzulegen, von dem ich seit Wochen träume. Höchst entspannt fahre ich an der Donau entlang. Auf der Höhe des schon zu Passau gehörenden Ortes Grubweg verlässt die Staatsgrenze die Donau und biegt nach Süden ab. Sie führt südlich um die Stadt Passau herum und trifft dann auf den Inn, der ab da die Staatsgrenze bildet. Würde die Grenze weiter entlang der Donau führen, dann gehörte Passau nicht zu Deutschland, sondern zu Österreich. Dass Passau zu Deutschland gehört, hängt mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 zusammen, dem letzten Reichsgesetz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Darin war geregelt, dass die geistlichen Fürstentümer säkularisiert und, wie auch viele kleinere weltliche Fürstentümer, "mediatisiert", also aufgelöst werden. Die dadurch frei werdenden Territorien im Grenzbereich zwischen Bayern und Österreich wurden entweder dem einen oder dem anderen Staat zugeteilt. So kam das ehemalige Fürstbistum Passau zu Bayern. Das Gesetz dokumentiert die damals bestehenden Machtverhältnisse. Die Menschen wurden natürlich nicht gefragt.
Um 12:00 Uhr taucht die Spitze der Passauer Altstadt auf, da wo der Inn in die Donau fließt. Wenig später radele ich höchst lässig im Schleichtempo und mit nur einer Hand am Lenker über die Donaubrücke. Fast hätte ich angefangen, vor lauter Übermut mit der anderen Hand die Leute zu segnen, wie der Papst es tut, wenn er mit dem Papamobil unterwegs ist.
Montag, 18. Juli (58. Tag)
Schon seit einigen Tagen hat mein Rad merkwürdige Schleifgeräusche beim Bremsen gemacht.
Deshalb will ich auch unbedingt einen Werktag in Passau verbringen. Im "Fahrradladen" in der Wittgasse 9 wird mir hervorragend geholfen. Es stellt sich heraus, dass die Bremsbeläge bis auf weniger als 1 mm abgefahren sind. Weil der Laden die passenden Beläge vorrätig hat, ist die Reparatur eine Frage von Stunden. Beim Abholen gibt mir der Chef den Tipp, nächstens bei einer großen Tour Ersatzbeläge mitzunehmen, weil jede Werkstatt sie montieren könne, aber nicht jede Werkstatt diese Beläge vorrätig hätte. Ein sehr guter Tipp. Allerdings habe ich nicht vor, noch einmal eine solche Tour zu machen.
Den Tag verbringe ich ansonsten überwiegend sitzend in einem Café, auf einem Ausflugsschiff oder auf Bänken. Mein Bewegungsdrang hält sich sehr stark in Grenzen.
(wird fortgesetzt)
Paul Tiedemann