"Alles reine Kopfsache"
Peter Sauer (Redaktion Frankfurt aktuell) und Regine Burges sind Alltagsradler, fahren gerne in die Berge und schieben an sehr steilen Steigungen, ohne gleich zu verzweifeln
Foto: Peter Sauer
Ich gelte im Bekanntenkreis als unverbesserlicher Radfahrer. Schon zu Studienzeiten wurde (wie ich erst später erfahren habe) im Bekanntenkreis darüber gesprochen, dass es dort einen gäbe, der samt Freundin mit dem Rad über die Alpen gefahren sei. Diese vermeintliche Heldentat erschien mir bereits damals als reine Kopfsache. Es ließ sich leicht ausrechnen, dass am Brennerpass, als leichtester Hürde zwischen dem Inntal und Italien, nicht mehr Höhenmeter zu überwinden waren als auf dem Weg von Frankfurt hinauf zum Feldberg im Taunus. Vergessen in meinen Berechnungen hatte ich damals den Appenin, der zur weit schwierigeren Hürde auf dem Weg nach Rom wurde. Das konnte im Bekanntenkreis sowieso keiner glauben.
Später dann wurde meine Reisegefährtin von ihren Freundinnen dafür bewundert, dass sie mit mir Rad fuhr – in die Pyrenäen, in die Schweiz, in die Berge der Provence oder der französischen Alpen. Die Vorstellung, man bzw. Frau müsse extrem sportlich, radsportlich, sein, um die (im Kopf der Fragenden) gigantisch überhöhten Passstraßen bewältigen zu können, wurde von ihr damit beantwortet, dass dies weniger eine körperliche Leistung, sondern in erster Linie eine "Kopfsache" sei. Diese Einstellung hat sicherlich nicht ganz unwesentlich zu unserer späteren Eheschließung beigetragen
Am Fuß einer 30 km langen Bergstrecke mag es für Laien unvorstellbar sein, sich selbst, das Fahrrad und 20 kg Gepäck auf 2.400 Meter Höhe über dem Meer hinaufzuschaffen. Endlos ziehen sich die Steigungen, Kehre für Kehre türmt sich auf – das sieht der Laie mit Schrecken, und er sieht es richtig. Der Kopf eines Unverbesserlichen sieht Anderes: Die langgezogene Steigung ist weniger steil als befürchtet; hinter der nächsten Kurve haben wir bereits die ersten 300 Höhenmeter gewonnen; von Kehre zu Kehre ist schön zu sehen, wie man sich nach oben schraubt. Darüber hinaus versucht der Kopf frühzeitig, den Tag zu planen, die Steigungen zu kalkulieren, entspannt zu bleiben, Zeitdruck und damit Stress zu vermeiden. Der Kopf muss sich damit zufrieden geben, dass frühzeitig auf das große Ritzel geschaltet wird und der Tag außer "bergauf" kaum etwas zu bieten haben wird – wenn man von grandiosen Fernsichten, glitzernden Schneefeldern, gewaltigen Felsformationen, staunenden Kühen oder pfeifenden Murmeltieren absieht. Vor einem Gasthof auf einer Passhöhe auszurollen, die nächste Bergkette und eine lange Abfahrt vor Augen, kann enorme Glücksgefühle in Kopf und Körper freisetzen.
Natürlich ist es von Vorteil, regelmäßiger Radfahrer zu sein, bevor man solche Etappen in Angriff nimmt. Aber wirklich sportlich, wirklich durchtrainiert muss man nicht sein. Wichtiger ist, dass der Kopf bereit ist, sich darauf einzulassen.
Andere Kopfsachen. Lange Radfahrten ermüden nicht nur die Beine, die Arme, den Körper, sondern vor allem den Kopf. Auf einer Fahrt von Frankfurt nach Kassel bin ich zum Frühstücken in Gießen verabredet. Satt und zufrieden setze ich die Fahrt danach fort. Irgendwo weit hinter Marburg schlägt die Langeweile des Vor-sich-hin-Tretens in Müdigkeit um, das Rad rollt zäh und schwer, die Konzentration lässt merklich nach. Höchste Zeit für eine Pause. Im nächsten Dorf gehe ich in einen Getränkemarkt, um meine Vorräte aufzufüllen. Wasser, Saft, Schokoriegel, Kekse. An der Kasse entwickelt sich ein kurzes Gespräch mit der Chefin des Ladens, über das Woher und Wohin, über die richtigen Getränke und die passenden Schokoriegel, über das Wetter und die Jahreszeit. Danach steige ich wieder aufs Rad. Die Müdigkeit scheint verflogen, die Konzentration ist wieder da, und die nächste Steigung ist weit weniger schlimm als befürchtet. Körperlich bestand kaum Gelegenheit zu echter Regeneration, aber im Kopf hat sich etwas getan, hat mich etwas aus meiner Lethargie geholt, etwas, das viele Kilometer weiter trägt. Nicht ganz bis nach Kassel, zugegebenermaßen, aber doch ein erhebliches Stück der Strecke.
Im September war ich ein paar Tage im Schwarzwald unterwegs. Nach drei Tagen Berg- und Talfahrten und einem Pausentag sitze ich etwas abgeschafft auf dem Rad. Der erste Hügel ist steil, die darauf folgende mäßige Steigung zieht sich zäh. Im Wald vor dem Schluchsee verfahre ich mich, danach gerate ich auf den ausgewiesenen, aber leider miserablen Weg. Es will nicht richtig vorangehen. Einkaufen im Dorf, Brezeln und Bananen wandern in den Rucksack. Doch auch das hilft kaum. Auf dem Radstreifen entlang des Sees folgt mir ein Radfahrer auf einem Rennrad. Nach einigen Minunte setzt er zum Überholen an. Spricht mich an. Was das für ein Rad sei, auf dem ich sitze. Ob ich mit dem Nabendynamo zufrieden sei, wie ich die Lichtausbeute beurteile, und dass es kaum ein besseres Produkt gäbe, hierzulande. Wohin ich wolle, und woher ich komme. Er selbst fahre nur mal eine kurze Runde, sei aber in Karlsruhe täglich mit dem Rad unterwegs und ebenfalls ADFC-Mitglied. Das Gespräch zieht sich am See entlang, wir werden schneller und schneller, plötzlich läufts. Am Kiosk gegenüber der Staumauer trennen wir uns. Ich rolle zum Kaffee, er zur B500. Als ich nach einer kurzen Pause wieder im Sattel sitze, flitze ich leicht und locker auf dem Radweg der Bundesstraße entlang. Die Beine, sollte man meinen, sind noch die vom frühen Vormittag, doch der Kopf scheint ein anderer zu sein. Und der entscheidet sich für das Weiterfahren. Am späten Nachmittag schieße ich noch locker 30 km über das anvisierte Ziel hinaus, bevor ich bei Basel in einem Gasthof einkehre. Da hatte dann auch der Kopf genug.
Peter Sauer