Was ist los an der Romantischen Straße?
Mitunter fährt man ja mit dem Rad durch die Gegend, um zu erfahren, wo man im Leben nie wieder hin muss; ich jedenfalls tue das gerne. Zwei Orte sind bei mir neulich hinzugekommen: der Radweg "Romantische Straße" zwischen Würzburg und Werbach an der Tauber und das Kloster Andechs. Letzteres muss jeder Biertrinker im Leben mindestens einmal besuchen, dachte ich vorher. In Zukunft fahre ich lieber wieder auf den Kreuzberg in der Rhön… aber der Reihe nach:
Wie gesagt: Kloster Andechs ist das Ziel, der Radweg "Romantische Straße" der Weg. Ich fahre mit Rad und Zug nach Würzburg und bin zum allerersten Mal in meinem Leben nicht um genau 12 Uhr mittags in Gemünden, sondern erst um 13 Uhr. (Das wird später prompt bestraft.) In Würzburg klettere ich neben der Marienburg die Romantische Straße langsam empor und freue mich des Weges – noch. Als ich glaube oben zu sein, fangen die Leiden richtig an. Zunächst geht's auf und ab, dann steil hinunter über die Autobahn und sofort wieder mit 16% Steigung längere Zeit bergauf. Ich nähere mich der Tauber. Es fängt an zu gewittern und stark zu regnen – die Strafe für Gemünden. Glück im Unglück: Am Weg befindet sich ein verwilderter Garten mit einem alten Holzschuppen. Beides ist unverschlossen und dient mir als Wetterschutz, bis der Regen nachlässt. Weiter nach Tauberbischofsheim. Ich bin nass und lustlos und finde Unterkunft gegenüber einer Kirche von Balthasar Neumann (der hat offenbar sämtliche Kirchen südlich des Mains gebaut).
Das Restaurant ist randvoll mit einer Busladung Rentner aus Franken. Draußen ist ein einziger Tisch trocken, also setzt sich zwangsläufig Norbert aus H. bei Frankfurt (auch ADFC-Mitglied) zu mir. Norbert ist von zu Hause aus gestartet und fährt ein Pedelec, weil er damit 130 km pro Tag schafft. Wer sich mit so etwas auf Touren belastet, muss intelligent sein – und Norbert ist intelligent: Er hat keine Gepäcktaschen, sondern einen Korb mit einem wasserdichten Rucksack und weiterem Gepäck darin. Wenn er den Rucksack schultert, kann er sein Rad sogar anheben und etwa einen Zug besteigen (oder in Würzburg ohne Aufzug umsteigen). Nachteil: Es sieht immer so aus, als ob er vom Einkaufen kommt.
Am nächsten Tag muss ich um 12 Uhr in Rothenburg o.d.Tauber sein, um meine weiteren sechs Mitradler zu treffen. Ich fahre vor Norbert los, er holt mich ein, muss dann an die Boxen, ich überhole ihn, er überholt mich wieder, wartet fairerweise vor Rothenburg, so dass wir gemeinsam um 11:45 Uhr am Bahnhof eintreffen. Norbert fährt alleine weiter.
Auf dem Dachfirst Europas, in Schillingsfürst, verlässt mich wieder die Lust. Ich übernachte auf der Hauptwasserscheide. Die anderen fahren nach Feuchtwangen ins Karpfenhotel (obwohl dort der Aufenthalt für viele Gäste tödlich endet).
Am Folgetag: Schillingsfürst – Feuchtwangen, dann in Richtung Nördlinger Ries. Die Einfahrt ins Ries kostet Schweiß: es geht auf und ab. Dann Wallerstein und Nördlingen. Wir wohnen neben dem großen Turm, dem "Daniel". Wie meistens hat unser Saarländer die besten Kontakte: Stolz stellt er uns einen Mann vor, der zwar wenig Zähne im Mund, dafür aber ein vergilbtes und abgegriffenes Mannschaftsfoto von sich und dem früheren "Bomber der Nation" Gerd Müller hat.
Von Nördlingen geht es weiter bis Gerstlingen kurz vor Augsburg. Hier muss ich unseren Mitradler Walter loben, dem es mit modernster Internet-Technologie gelingt, für uns sieben Einzelzimmer zu buchen. Mein spiralgebundenes Routenbuch "Radweg Romantische Straße" ist hilfreich, kommt aber erst später zu größerer Bedeutung. Es ist leider ratlos, wenn wir uns, wie kurz hinter Donauwörth, so verfahren, dass wir außerhalb des Routenbuches sind. Dann helfen nur noch die Autokarte unseres Saarländers oder die alten Radkarten unseres mitradelnden Vollakademikers. (Letzterer grummelt sofort, wenn ihm ein Auto entgegenkommt.) Der Radweg "Via Claudia" dient uns hinfort als Notlösung, wenn wir die Romantische Straße verlieren, was oft passiert.
Es geht in Richtung Augsburg. Rüdiger fährt genau über einen Nagel und muss seinen hinteren Schlauch wechseln. Die Unwucht im Reifen nach der Montage walzt er durch sein Eigengewicht weg. Durch Augsburg. Unser Saarländer verfährt sich im Wald, gerät an die olympische Kanustrecke von 1972 und fängt dort einen radelnden Koreaner ein, der auch nicht weiß, wo er ist. Wir treffen uns dank Handy wieder am Lech-Stausee Nr. 23 (so viele gibt's davon). Wenn man dem Englisch des Koreaners mit Aufmerksamkeit folgt, erfährt man, dass er aus Venlo in NL kommt und noch heute nach Füssen und Neuschwanstein will. Als Wegweiser hat er eine extrem abstrakte Karte der Romantischen Straße: eine Linie mit den Namen der Städte wie eine Perlenkette daran. Füssen ist darauf nur ein paar Zentimeter entfernt. Er fährt ein Damenrad, trägt eine blaue Kappe und einen roten Umhang, der im Gegenwind heftig flattert. Ein Zelt und blaue Mülltüten gehören zu seinem Gepäck. Er sieht aus wie eine Mischung aus Papagei und Batman. Berge sind ihm vor dieser Deutschland-Tour unbekannt gewesen.
Wir erreichen Landsberg/Lech. Es droht zu regnen. Der Koreaner fotografiert mit seinem Handy die Karten in meinem Spiralo-Buch von hier bis Füssen wegen der Camping-Plätze. Zwei Amerikaner sitzen neben uns und wollen auch nach Füssen, wir dagegen bekanntlich nach Andechs. Auch die Amerikaner machen sich über meine Karten her, um sie zu kopieren. Weil uns dass angesichts des Regens zu lange dauert, verkaufe ich mein Spiralo-Buch zum halben Neupreis an den einen Amerikaner. Dann übergeben wir den Koreaner wie einen Staffelstab an die Amis zur weiteren Reisebegleitung, nicht ohne sie darauf hinzuweisen, dass das, was der Koreaner spricht, Englisch ist. Wir brechen wegen Regens unsere Etappe ab und übernachten im Bett&Bike-Laden in Landsberg.
Der nächste Tag wird lang, jedenfalls für mich.
Unser Saarländer besprüht seine Radkette mit dem Fluid, das Alfred ihm besorgt hat, das er aber nicht bezahlen will, weil er bei Alfred Öl bestellt hat. Der Bett&Bike-Hotelier empfiehlt Waffenöl als bestes Schmiermittel für Ketten. Auf meine Bitte besprüht er meine Kette mit Waffenöl einer bekannten Marke. Mit echtem Waffenöl auf der Kette und dem roten Teufelchen, das mir auf dem Frankfurter Radreisemarkt eine Ausstellerin aus Brandenburg geschenkt hat und das hinten auf meinem Schutzblech klebt, fühle ich mich wie ein Kampfradler.
Nach Dießen am Ammersee. Ich kaufe am Bahnhof eine Fahrkarte für die Rückfahrt. Laut Reiseplan schaffe ich es noch bis nach Hause, wenn ich in Andechs nicht versacke. Es kommt ein Raddampfer (nicht auf Rädern, aber mit Radtransport und einem unterschlächtigen Schaufelrad auf jeder Seite). Von Herrsching auf der anderen Seeseite mühsam hoch nach Andechs, teilweise über Treppen auf und ab. Der Weg auf der Straße war uns nicht aufregend genug. In Andechs ein angetrunkenes Getümmel. Unser Saarländer trifft seinen Sohn, natürlich nicht zufällig. Nach zwei Bier muss ich aufbrechen, die anderen wollen noch weiter in Richtung Starnberg. Also runter auf der Straße nach Herrsching zur S-Bahn. In München-Pasing Chaos wegen überraschend gesperrter Gleise. Ich verwechsele beim Hören der Ansage Nah- und Fernverkehr und fahre weiter nach München Hbf. Das ist ein Fehler, denn nun habe ich keine Chance mehr, am selben Tag nach Hause zu kommen. Ich bin zunächst stinksauer, fahre dann mit dem Zug bis Treuchtlingen, finde dort sofort ein Hotel und kann sogar noch das Spiel Deutschland-Portugal auf Großbildschirm in der Kneipe sehen. So endet der Tag, der mit Waffenöl begann, mit einem Autokorso in Treuchtlingen. Fußball sei genau so unberechenbar wie Radreisen, sagt der Wirt.
Am nächsten Tag fahre ich mit dem Zug weiter. Ein gutes Zeichen: In Gemünden bin ich genau um 12 Uhr mittags!
Günther Gräning