Nikolaiken, beliebtester Ferienort Masurens. Das Kopfsteinpflaster auf dem Weg von Willkassen nach Nikolaiken ist nichts für Verwöhnte
Radtour durch das Ermland und Masuren
Fahrt durch das frühere südliche Ostpreußen
Angeregt durch Berichte in Medien über das frühere Ostpreußen, entschloss ich mich, diese Landschaft im Rahmen einer Radtour kennenzulernen. Im Internet fand ich ein passendes Angebot, und so konnte ich im Frühsommer 2010 rechtzeitig auf einen günstigen Flug der Lufthansa zurückgreifen und so Zeit gewinnen für eine Besichtigung der Altstadt von Warschau.
Nach der kurzen Besichtigung folgte der Transport mit einem Taxi in Richtung Masuren. In Rössel (Reszel) angekommen, wurden wir in einer originalgetreu restaurierten Kreuzfahrerburg (Hotel Zamek) untergebracht. Wir waren bezaubert von der geheimnisvol-len, einzigartigen Atmosphäre der alten Burg im gotischen Stil. Im Jahr 2001 war die Burg einem Bremer Kaufmann mit der Maßgabe übereignet worden, sie zu restaurieren. Sie wurde schrittweise umgebaut und modernisiert. Der Eigentümer der Burg erzählte mir, dass die Burg seit vielen Jahren der Ort unterschiedlichster Veranstaltungen, Ausstellungen, internationaler Begegnungen und Konferenzen sei. Es sei ihm gelungen, Fördermittel (auch von der EU) zu erhalten, um diesen geschichtsträchtigen Ort wieder zur Geltung zu bringen. Die Altstadt von Rössel am Fuß der Burg zählt zu den am besten erhaltenen im Ermland (Warmia). Sehenswert sind vor allem die Kirche St. Peter und Paul aus dem 14. Jahrhundert und das das Jesuitenkollegium aus dem 17. Jahrhundert.
Am zweiten Tag folgte die erste, insgesamt 43 Kilometer lange Radwanderung von Rössel nach Heilige Linde (Swieta Lipka) und zurück nach Rössel. Die Strecke verlief teils auf der ehemaligen Bahntrasse, teils auf Feldwegen. Nach etwa 11 Kilometern erreichten wir den Wallfahrtsort Heilige Linde des 1251 gegründeten Bistums Ermland (Warmia). Die Kirche von Heilige Linde ist der berühmteste Barockbau Ostpreußens. Erbaut wurde sie in der Zeit von 1687 bis 1730 von Baumeister Ertly aus Wilna. Weiter führte der Weg über wenig frequentierte Landstraßen, Feld- und Waldwege bis nach Loßeinen. Anschließend ging es an Seen und großen landwirtschaftlichen Flächen vorbei. Ein Abschnitt war durch feinkörnigen Sand so tückisch, dass wir unsere Räder etwa einen Kilometer lang schieben mussten.
Am folgenden Tag radelten wir die ersten Kilometer auf der ehemaligen Bahnstrecke. Währenddessen tauchte plötzlich ein Elch auf - eines der Wappentiere von Ostpreußen - und überquerte unsere Strecke. Weiter ging es auf wenig befahrenen Asphalt- und Feldwegen Richtung Rastenburg (Ketrzyn). Nach 22 Kilometern erreichten wir diese Kreisstadt (die ähnlich groß ist wie Friedberg). Der Zweite Weltkrieg brachte in Rastenburg erhebliche Zerstörungen mit sich, die vornehmlich nach der Besetzung durch die Rote Armee eintraten. Die gesamte deutschsprachige Bevölkerung der Stadt flüchtete oder wurde vertrieben.
Nach weiteren acht Kilometern erreichten wir die Ortschaft Görlitz (Gierloz), die zuvor schon durch eine Vielzahl von Hinweisschildern mit dem Zusatz "Führerhauptquartier" angekündigt worden war. Ab September 1940 war unweit von Rastenburg im Mauerwald (Mamerki) nahe dem kleinen Ort Görlitz unter höchster Geheimhaltung das Hauptquartier "Wolfsschanze" in Vorbereitung des Krieges im Osten angelegt worden. Hitler hielt sich vom 24. Juni 1941 bis zum 30. No-vember 1944 an rund 800 Tagen in der Wolfsschanze auf. Am 24. Januar 1945 wurde die gesamte Anlage von deutschen Pioniertruppen gesprengt. Die Reste der Wolfsschanze sind heute ein Freilichtmuseum. Nach einer Besichtigung der Anlage fuhren wir über Doba, Kamionky, Wrony und Lötzen nach Willkassen. Dort quartierten wir uns in einer gut -geführten Pension für eine Nacht ein.
Am vierten Tag erkundeten wir die Gegend um Lötzen (Gizycko). Die Fahrt ging an vielen Seen vorbei. Über Borki, Paprotki und Rydzewo erreichten wir die Kreisstadt Lötzen. Wir waren immer wieder beeindruckt von der Landschaft und der modernen Landwirtschaft, mit über 100 Hek-tar großen Ackerflächen.
Lötzen ist eine Perle Masurens, gelegen an einem schmalen Landstreifen zwischen dem Löwentinsee (Niegocin) und dem Kissainsee (Kisajno). Die beiden Gewässer sind eine echte Zierde der Region. Die ausgedehnte Wasserfläche des Löwentinsees, des siebtgrößten Sees Polens, ist eine Wonne für Wassersportler, und der Kissainsee entzückt durch die Unmenge kleiner Inseln, die in ihrer Mehrzahl Naturschutzgebiete sind. Die Stadtgeschichte Lötzens reicht bis zu den Anfängen des 14. Jahrhunderts, als der Deutsche Orden 1340 eine Burg errichtete, die sich auf der strategischen Landzunge zwischen dem Löwentin- und dem Kissainsee befindet. Die Burg erhielt bald den Namen Lötzen und gehörte zu einer Kette von Grenzburgen, die zur Wehr und Vorbereitung von bewaffneten Übergriffen gegen die Litauer erbaut wurde.
Nach dem Aufbruch in Willkassen führte uns der Weg am fünften Tag der Reise über Asphaltstraßen, Schotter-, Sand-, und Kopfsteinpflasterwege nach Nikolaiken (Mikolajki). Die Wege zu den ehemaligen Rittergütern sind meist mit Katzenkopfsteinen gepflastert. Die runden Steine stammen von Feldern und aus Flussbetten und wurden dort aufgesammelt und dann vor etwa hundert Jahren verlegt. Das war damals die Agrarförderung, in der Zeit, als viele Besitzer der Rittergüter im Reichstag und im preußischen Landtag in Berlin saßen und den Ausbau des ländlichen Raums forcierten.
Nach etwa 30 Kilometern über Feld-, Wald- und Sandwege erreichten wir rechtzeitig vor einem heftigen Regenschauer den Luknainersee (Jezioro Luknajno). Dort suchten wir in einer Gastwirtschaft in einem ehemaligen Rittergut Zuflucht. Das Naturschutzgebiet Luknainersee beherbergt unter anderem ein naturwissenschaftliches Institut der Warschauer Universität. Hier verbringen rund tausend Schwäne jedes Jahr die Sommermonate. Der See ist an keine Stelle tiefer als zwei Meter. Deswegen können die Schwäne leicht ihre Nahrung vom Seegrund auflesen.
Nach weiteren sieben Kilometern erreichten wir unser Hotel Mazurski Dworek in Nikolaiken, dem wohl den bekanntesten und beliebtesten Ferienort Masurens und dem Zentrum des polnischen Wassertourismus. In Nikolaiken hielten wir uns einen Tag lang auf. Der Name der Stadt leitet sich vom heiligen Nikolaus ab, dem Schutzpatron der Fischer und der Wasserwege. Bis 1945 gehörte Nikolaiken zum Landkreis Sensburg in der Provinz Ostpreußen. Im Zweiten Weltkrieg wurde es als eine der wenigen Städte in Ostpreußen nicht zerstört. Während des Krieges war dort die deutsche Abwehr unter Admiral Canaris stationiert.
Am siebten Tag gaben wir unsere Leihräder zurück und nahmen Abschied von Masuren. Mit dem Bus fuhren wir nach Warschau zurück, um von dort aus die Heim-reise per Flugzeug anzutreten. Der Fahrer machte uns auf die alte Grenze zwischen Polen und Ostpreußen aufmerksam, auf der noch Ruinen der alten Bunker zurückgeblieben sind.
Dr. Karl Gese