Deutschland von A bis Z
Oder: Mit dem Rad den Sachsen auf der Spur
Einleitung: In der Jubiläumsausgabe "175 Jahre Baedeker" aus dem Jahre 2002 beginnen die deutschen Top-Reiseziel mit "Aachen" und enden mit "Zittau". Was würde einem alles widerfahren, wenn man diese Strecke mit dem Rad führe?
Und: Im Jahre 772 marschierte der fränkische König und spätere Kaiser Karl der Große mit seinem Heer von Aachen aus gegen die Sachsen. Ihm zu Ehren gibt es heute den ausgeschilderten Radfernweg "Kaiserroute" von Aachen nach Paderborn, der dem Heerzug folgt. Wenn man auf dem solange führe, unbewaffnet natürlich, bis man auf den ersten Sachsen trifft… Karl der Große wollte ab 750 die Sachsen zu Christen machen. Das ging nur bewaffnet, denn er hatte keine überzeugenden Argumente dafür, dass sie ihren Wotan gegen einen Gott aus dem Vorderen Orient eintauschen sollten. Karl eroberte die sächsische Festung Eresburg (heute Obermarsberg an der Diemel) und ließ die Irminsäule fällen, um Wotans Ohnmacht zu beweisen. Wotan reagierte nicht, ihm war die Sache wohl zu lächerlich. Man sieht: Es gibt Gründe, der Sache mit den Sachsen mit dem Fahrrad auf den Grund zu gehen – nein, zu fahren. Auf geht's!
17.06.2010: Anfahrt mit Zug nach Aachen. Dort treffe ich meinen Mitradler Gerhard aus dem Saarland. Er hat doppelt so viel Gepäck wie ich und schleppt Kamera, PC, GPS etc. Karl dem Großen zu Ehren fahren wir zunächst zum Dom. Dann suchen und finden wir die Kaiserroute und gelangen nach Kornelimünster. Da geht's zum Eifelscheich, habe ihm ein Mann erzählt, sagt Gerhard. Die Suche nach dem Eifelscheich führt zu einem Schild "Eifelsteig". So beginnt unser Kampf mit den deutschen Dialekten! Nach 47 km landen wir im "Echtzer Hof" in Echtze.
18.06.2010: Wir kürzen ab und verlassen die Kaiserroute bis Horrem. Zur Strafe verlieren wir sie wieder bis kurz vor Rommerskirchen. Wir sind umgeben von Braunkohle und Kraftwerken. Deutschland verliert bei der WM ab 13:30 Uhr mit 0:1. Und dafür sind wir heute nur 63 km gefahren!
19.06.2010: Wir kommen über Bedburg an den Rhein und überqueren ihn mit der Fähre bei der Festung Zons. Dann wird die Gegend etwas unübersichtlich. An einer belebten Kreuzung eine Dame, barfuß mit Staubsauger. Es wird sehr bergig. In Hilden ist ein großer Kunstmarkt. Wir passieren das Neandertal. Die Rache der Ausgestorbenen: ein deftiger Regenguss, der einzige der Tour. Weiter über Wülfrath. Gerhard will einen Tagebau mit Warnschildern vor Sprengungen knipsen und erntet Entsetzen ob seines Wunsches, dafür das Tor zu öffnen. Wir erreichen Velbert abseits der Kaiserroute nach 92 km. Übernachtung im Hotel "Zur Traube". Viele Prominente waren auch schon da (Carpendale, Tiller, Giller, Kuhlenkampf, Rebroff, Schönherr, Steeger,…)
20.06.2010: Es geht steil hinunter zur Ruhr in Hattingen. Wir passieren die Zeche Nachtigall vor Wetter/Ruhr und frühstücken noch einmal, weil's so schön ist. Gegen eine Spende für eine neue Ruhrfähre werden wir übergesetzt. Ein russischer Spätaussiedler auf der Fähre erzählt von einem nach Steinen tauchenden Hund. Wir erreichen nach heftiger Steigung über Wickede den Flugplatz Menden-Arnsberg und buchen im Flugplatzhotel. Die Räder stehen in der Empfangshalle. Das haben sie nach 97 km auch verdient. Der Wirt ist gesprächig und kennt alle Welt, darunter Henry Kissinger. Einen Sachsen haben wir noch nicht getroffen.
21.06.2010: Weiter auf der Kaiserroute an der Ruhr, der Möhne, am Möhnesee und wieder an der Möhne. Vor Warstein kauft Gerhard für sein GPS acht Batterien für 1 ?, an denen er noch seine Freude haben sollte: Sie hielten immer nur ein paar Stunden. Ich beobachte inzwischen einen Güterzug mit dem Tagesausstoß der Warsteiner Brauerei. Wir folgen der Kaiserroute über steile Berge bis Büren an der Mündung der Afte in die Alme. Dort erwischen wir Gäste und Personal in einer Vorstadtkneipe beim Rauchen. Man hält uns offenbar für getarnte Kontrolleure und lenkt uns mit mehreren 0,2-Ltr-Gläsern Bier für einen Spottpreis ab. Horst kennt alle Kirchen nördlich des Mains von innen und nennt sich "Kircheninnenausstatter". Er gibt aber zu, dass er am liebsten mit seinen Kumpels säuft. Es ist 15 Grad kalt. Heute waren es 71 km. Mein Klo im Hotel spült ständig. Gerhard repariert es notdürftig.
22.06.2010: Morgens sind unsere beiden Klospülungen kaputt. Meine spült gar nicht mehr, dank Gerhards Reparatur. Die Kaiserroute müssen wir nun verlassen. Auf Tipp von Horst fahren wir allmählich hoch bis nach Essentho auf die Wasserscheide zwischen Rhein und Weser und dann steil nach Marsberg an der Diemel hinunter. Obermarsberg, die sächsische Festung Eresburg mit der Irminsäule, die Kaiser Karl der Große hat fällen lassen, ist imposant und sehr hoch und wird daher von Gerhard nur von unten geknipst. Wir folgen der Diemel auf dem Radweg. Wir erreichen Trendelburg nach 90 km und essen in der Nähe des Rapunzel-Turmes.
23.06.2010: Auf der ehemaligen hessischen Carlsbahntrasse nach Karlshafen und über die Weserbrücke zum Weserradweg. Nieder mit den Niedersachsen! Der Radweg in Niedersachsen an der Weser ist eine Katastrophe. Und nun auch noch 25 % Gefälle zu einer Fähre! Sie hat keinen Motor und bringt uns trotzdem wieder nach Hessen. Wenn der Fährmann ein Niedersachse ist, dann ist er unser erster Sachse! Aber wir fragen lieber nach dem Fährmechanismus ohne Motor. Gerhard zahlt nur widerwillig, weil ja keine Energiekosten anfallen. So sind sie eben, die Saarländer! In Hann.-Münden schimpft eine Frau über die Bank, auf der wir sitzen. Sind da auch Proteine drin, fragt ein Mann beim Kirschenkauf und meint Würmer. Nach 86 km sind wir in Witzenhausen an der Werra in einem Bett&Bike-Betrieb.
24.06.2010: Vor unserer Abfahrt erzählt uns der Wirt vom Gebietstausch zweier Nachbardörfer zwischen Russen und Amerikanern 1945 und von der Whiskey-Wodka-Linie. Die Züge sollten nicht durch einen Zipfel Thüringens fahren müssen. Wir folgen der Werra auf dem Radweg bis zur Hörsel und dann auf der Straße nach Eisenach (102 km). Steil hinauf geht es zu einer Pension. Ein Gast tauscht mit mir Schwarzbier gegen Pils und schimpft, dass es nach 18 Uhr auf der Wartburg kein Bier mehr gibt. Italien scheidet bei der WM aus.
25.06.2010: Auf dem Radweg "Thüringische Städtekette" geht es weiter nach Osten, immer noch auf der Suche nach richtigen Sachsen. Hinter Gotha gerät Gerhard auf unbeschilderte Abwege und bricht sich bei Seebergen eine Speiche, kein Wunder bei dem Gelände und seinem Gepäck. Meinem Vornamen zuliebe fahre ich den Schildern nach aufmerksam und genussvoll durch Günthersleben. Wir treffen uns wieder in Wandersleben. In Erfurt gibt es am Bahnhof eine Radwerkstatt. Der Monteur trägt trotz der Hitze im Flachcontainer eine Wollmütze. Ist er vielleicht ein Sachse, sind die so hartgesotten? Die Speiche wird erfolgreich ersetzt. Gerhard staunt, dass der Monteur einer Frau beim Kauf eines Glühbirnchens für 1 ? eine Rechnung mit Durchschlag ausdruckt – für einen Saarländer unvorstellbar. Wir fahren mit der neuen Speiche an diesem Tage 94 km bis kurz vor Weimar nach Hopfgarten ins Gasthaus "Zur Weintraube". Abends wird gegrillt, weil ja Freitag ist. Ich empfehle dem Wirt, Bett&Bike beizutreten.
26.06.2010: Den Lambrusco "amabile", den uns der Pizza-Service in Eisenach geschenkt hat, lasse ich morgens im Zimmer stehen mit dem Hinweis, ihn uns bitte nicht nachzusenden. Es geht durch Weimar in den großen Park, in dem das berühmte Gartenhaus Goethes steht. Wenn er zu Hause sein sollte, fährt er einen kleinen gelben KIA, der steht nämlich davor. Wir müssen eine Umleitung über sehr steile Berge fahren und erreichen Jenas Innenstadt. Gerhard kauft sich ein Fischbrötchen. "Diedschn dazuuh" lehnt er zunächst ab, weil er dahinter eine ihm unbekannte Zutat vermutet, nicht etwa ein "Tütchen". Der Radweg "Städtekette" hat auf meinen veralteten Karten nicht den aktuellen Verlauf. Wir verlieren ihn und müssen zur Strafe bergan schieben – das einzige Mal auf der Tour. Kurz vor Gera eine Eisdiele. Es gibt leider keine Soljanka, obwohl sie auf der Speisekarte steht, dafür aber laut Aussage des Kellners "Raggufeng" mit Betonung auf der ersten Silbe. Ich lasse mir das auf der Karte zeigen. Es ist "Ragout fin". Ich vertrage mich wieder mit dem Kellner, nehme aber doch Wiener Würstchen. In Gera gibt es einen "Sichtkarten-Triebwagen", einen alten Straßenbahnwagen mit zwei Achsen. Ein Radler bezahlt den Erwerb eines Billigrades mit dem Verlust des hinteren Kugellagers. Da können auch wir nicht helfen. In Gera-Collis im Gasthof (Bett&Bike) gibt's überraschenderweise Licher Bier. Die Wirtin hat ein großes Herz für Radler. Neulich musste sie einen abweisen, weil ihr Haus voll war. Das ging ihr nahe. Möge sie ihr Haus immer voller Radler haben, und möge andererseits kein Radler abgewiesen werden müssen!
27.06.2010: Weiter aufwärts an dem Flüsschen Sprotte in einem sehr idyllischen schattigen Tal: das freut einen Kieler wie mich natürlich. Wir erreichen Altenburg, kurze Andacht am Skatbrunnen und dann an die Zwickauer Mulde in Colditz. Wir sind jetzt endlich in Sachsen! Hoch hinauf und weiter an der Freiberger Mulde. Ab Leisnig ein großer Umweg und eine lange Baustelle mit aufgerautem Asphalt als Rüttelstrecke. Döbeln ist merkwürdig menschenleer. Es stellt sich heraus, dass Deutschland gegen England spielt. Wir sehen beim Koch im Hotel noch die beiden letzten Tore für die Deutschen. Heute waren es 113 km!
28.06.2010: Die weibliche Bedienung beim Frühstück hat entweder noch eine Kundenallergie aus DDR-Zeiten oder leidet unter Spätfolgen des Feldzuges von Karl dem Großen. Ihre Vorfahren sind womöglich hierher verschleppt worden. (Gerhard, wir kommen nicht aus Aachen!) Wir fahren weiter nach Nossen und dann durch ein schönes Tal mit wenig Verkehr auf dem Radweg "Sächsische Städtekette" viele Kilometer abwärts bis Meißen. Gerhard fährt zur Porzellanmanufaktur und will ein Andenken kaufen. Er muss dort an der Garderobe "aus Sicherheitsgründen" seinen schweißnassen Helm einer Sächsin übergeben – das stört die gar nicht. Weiter an der Elbe nach Dresden und in die Innenstadt. Gerhard knipst wie wild, Staatsoper, Frauenkirche, Zwinger und alles, was sonst noch herumsteht. Wir fahren bis Pirna und kommen heute auf genau 100 km. Das "Elbschlösschen" (Bett&Bike) ist ausgebucht. Das Touristik-Büro schickt uns zum Finnland-Haus an der Elbe mit hauseigenem Bach. Hier erfahren wir herzliche Aufnahme durch einen Oldenburger und eine Thüringerin. Wir essen im Elbschlösschen im Biergarten am Elberadweg.
29.06.2010: Der Oldenburger sagt, er sei vom Niedersachsen zum Sachsen befördert worden und möchte noch gerne Obersachse werden. Wegen guter Leistungen insbesondere beim Frühstück stehe dem nichts mehr im Wege, sage ich. Gerhard kennt die Sächsische Schweiz noch nicht. Also an der Elbe an der Bastei und der Festung Königstein vorbei über eine Fähre bis Bad Schandau. Um nicht einen großen Umweg machen zu müssen, soll unser Weg ein Stück durch Tschechien führen. Rast an einem Rapunzel-Laden. In Tschechien ist es heiß und geht ständig steil auf und ab. Die Gegend ist von herber Schönheit und hat viele Leerstände und großen Sanierungsbedarf – höflich ausgedrückt. Nach 95 harten Kilometern sind wir wieder in Deutschland und in Zittau am Ziel. Es gibt hier viele alte Häuser, und auch die bekannte "Sättigungsbeilage" ist allgegenwärtig. Darunter versteht man eine mäßig beliebte Zutat, die den Appetit auf weiteres Essen auf Null stellt. Wir wohnen im "Schwarzen Bären", einem ziemlich alten Schuppen genau 1 km vor Polen.
30.06.2010: Gerhard hat am Vorabend eine Bahnfahrt nach Saarbrücken mit IC gebucht. Die Schalterdame am Bahnhof ist erstaunt, dass das für mich auch heute noch geht. Wir kaufen Verpflegung. Die Verkäuferin lobt die Vielfalt unseres Menues (Würstchen, Brötchen, Frikadellen, Senf, Käse.) Wir fahren nach Dresden-Neustadt, dann nach Leipzig, dann IC nach Hannover. In Hannover nehmen wir den IC Richtung Frankfurt. Ein großes Rad-Chaos beim Einsteigen. Das Handy einer Frau fällt ins Gleisbett, nicht alle dürfen mitfahren. Vor Göttingen macht die E-Lok schlapp und muss "resettet" werden: kein Strom. Dann geht es weiter. Die Lok macht kurz vor Kassel erneut schlapp, wieder ein Neustart. Es ist heiß, die Bahn spendiert ein Freigetränk. In Kassel kommt eine alte Diesellok vor die E-Lok. Ich fordere eine Dampflok mit erprobter und durchschaubarer Technik, damit im Notfall auch die Passagiere helfen können, etwa Kohlen schaufeln – vergeblich. Die Diesellok müht sich, liefert aber keinen Strom. Es wird heißer. In Wabern Kontrolle der Stecker zwischen den Loks. Es gibt wieder Strom, die Lok kriecht aber nur sehr langsam über die Wasserscheide Weser/Rhein. Vor Marburg noch ein Nothalt wegen einer geöffneten Tür. Alle Passagiere erhalten ein Formular zur Durchsetzung ihrer Rechte wegen der Verspätung. Gerhard füllt begeistert aus. Der IC muss nach Karlsruhe, kann aber mit der Diesellok nicht nach Frankfurt Hbf, sondern nur bis Ffm-West fahren. Gerhard nimmt ab Friedberg den RE und gelangt noch spät abends nach Saarbrücken. Mein letzter Zug nach Friedrichsdorf ist längst weg. Meine Frau holt mich mit dem Auto in Friedberg ab.
Mit unseren beiden Rädern hatten wir in fast zwei Wochen nur eine einzige Panne…
Ich hab's ja geahnt: Zwischen A und Z ist in Deutschland einiges los!
Text und Fotos: Günther Gräning