Orange Beach
„Frankfurt stickt voller Merkwürdigkeiten“, sagte einst ein bekannter Dichter Frankfurter Mundart. Ihm zu Ehren will ich von einem Ort berichten, den man nur mit dem Fahrrad gut erreichen kann. Dazu muss ich zunächst ein wenig ausholen und um rund fünfundzwanzig Jahre zurückgehen:
Damals fuhr ich fast täglich mit dem Fahrrad über den Radweg auf der Mainbrücke zwischen Gallus und Niederrad zur Arbeit in die Bürostadt Niederrad. (Das war schon damals bequemer, schneller und billiger als mit dem Auto oder der S-Bahn, nur habe ich es nicht „Bike&Business“ genannt.) Unter den Eisenbahngleisen direkt am nördlichen Brückenkopf befand sich ganz versteckt ein winziger Kiosk mit einem kleinen Kohleofen und einer Boule-Bahn. Eines Tages – es war ein Winterabend, kalt und dunkel – hatte ich gerade die Brücke in Richtung Norden überquert, als ich unter der benachbarten S-Bahnbrücke eine reglose Person liegen sah, direkt auf einer zugefrorenen Pfütze. Es war ein Mann mittleren Alters, der vermutlich angetrunken ausgerutscht war, sich nicht rührte und sich auch nicht allein vom Eis erheben konnte. Was tun? Der Kiosk war schon geschlossen, weit und breit kein Mensch und kein Telefon (mobile gab es noch nicht). Also wieder zurück mit dem Rad über die Brücke nach Niederrad zur nahegelegen Polizeistation.
Die Polizisten kannten sich aus: „Ja, ja, das ist bestimmt einer aus dem Heim um die Ecke, die gehen über den Main zum Kiosk an der Brücke, trinken einen oder zwei und müssen dann wieder über den Main zurück....“ Ich kannte das Frankfurt trennende Syndrom „Hibb de Bach – dribb de Bach“ und hatte Verständnis für die unterkühlte Reaktion der Beamten. „Ich weiß, das ist nicht mehr Ihr Revier, aber bitte schicken Sie trotzdem einen Krankenwagen, ich warte drüben und zeige den Weg.“ Wieder zurück mit dem Rad über die Brücke; der Mann lag noch da. Vor Kälte schlotternd, stand ich dort einige Minuten, bis der Krankenwagen kam.
Der Kiosk unter der Mainbrücke II
Der kleine Kiosk ist noch da – aber wie hat er sich verändert! Er ist um ein Vordach erweitert worden. Vor dem Vordach befindet sich direkt unter der S-Bahnbrücke auf einer strandähnlichen Sandfläche ein kleiner Biergarten, dessen Tische auf die Nachmittagssonne ausgerichtet sind. Das Gelände hat auch einen Namen: „Orange Beach – das zweitschönste Versteck unter der Sonne“. Nur das zweitschönste?
An der S-Bahnbrücke hängen, mit einem Ziegelstein beschwert, die Fahnen Deutschlands, der Frankfurter Eintracht und die Piratenfahne des FC St. Pauli. Es gibt eine Tischtennisplatte und eine Kinderrutsche, diverse Blumentöpfe, einen Eselskopf aus Stoff und einen Grill. Im Herrenklo finde ich eine mannsgroße Figur aus Pappe, die mir zeigt, wie man pinkelt.
Unter dem Vordach steht eine schwarzhäutige Frau mit Strohhut, vor sich ein großes Puzzle, in der Hand – na was wohl? – ein Handy. Auf einer Tafel steht mit Kreide geschrieben die Frage: Dürfen Vegetarier mit Wurstfingern Nägel kauen? (Eine EU-Richtlinie dazu sei in Arbeit, wurde mir versichert.)
Ein Kunstwerk gibt es auch: ein halber hohler Baumstamm, innen orange gestrichen, mit eingebrannten Löchern auf der Vorderseite, betitelt „Orange Boule Fire“, gestiftet vom „Vorstand für Ästhetik und Schönheit“ und geschaffen vom Künstler Benno.
Als ich nach zwei Bier und einer gebratenen Rindswurst weiterfahre, ist die Dunkelhäutige mit ihrem Puzzle nicht vorangekommen. Warum auch – man ist hier zwar mitten in der Welt, aber irgendwo weit außerhalb der Zeit. Günther Gräning, Fotos: Peter Sauer |