Vier Räder sind eben zwei zu viel!
Von 1890 bis 1948 fuhr an der Küste zwischen Toulon und Fréjus/St. Rafael eine Dampfeisenbahn mit einer Spurweite von einem Meter. Sie machte u.a. auch einen Abstecher nach St. Tropez und hieß im Volksmund „le Train des Pignes“, weil die Dampfloks durch Verbrennen von Zapfen der einheimischen Schirmpinie betrieben wurden. Die Trasse hatte einen atemberaubenden Verlauf in unmittelbarer Nähe zur Küste auf einer Länge von rund 120 km. Sie erreichte ihren höchsten Punkt mit etwa 100 m auf dem Pass von La Croix auf der Halbinsel von St. Tropez. Durch Tunnel, über Brücken, durch Felsschluchten, an Weinbergen und Stränden vorbei und oft mit spektakulärem Blick aufs Mittelmeer wurden Bahnhöfe bedient, die einheitlich in stilvoller Bauweise errichtet worden waren.
Die Züge sind längst Geschichte, die Schienen auch, aber die Trasse und alles andere ist fast vollständig erhalten.
Die folgende Geschichte ereignet sich im Februar 2009 auf der alten Trasse – noch nicht ausgebaut – zwischen Cavalaire und Le Lavandou. Wir fahren zu viert zunächst in Richtung Westen und gelangen nach ein paar Kilometern an eine Wegsperre für alle Fahrzeuge und Fußgänger. Es hat tagelang stark geregnet, infolgedessen hat ein Felssturz die Trasse in einer engen Schlucht verschüttet. Deshalb hat die Bürgermeisterin in einem Amts-Französisch, das jeden deutschen Ordnungsbeamten vor Neid erblassen ließe, die Sperre auf zwei Aushängeschildern verkündet. Sie zitiert außerdem noch ein halbes Dutzend Paragrafen – aus dem Code Napoléon, wie ich vermute – um ihrem Sperrbefehl Nachdruck zu verleihen. Aber es hat alles nichts genutzt: die Fußgänger und Radfahrer haben sich eine Gasse durchs Geröll gebahnt, um den Weg auf der alten Bahntrasse trotz Verbotes zu passieren. Auch wir mit unseren Rädern trauen uns und können fast problemlos durchfahren. Wir kommen nach einer Stunde auf derselben Trasse wieder zurück. Kurz vor der Sperre auf der Westseite nähert sich von hinten plötzlich mit Blaulicht und französischem Martinshorn ein Auto der Gendarmerie. Zu unserer Erleichterung gilt der Einsatz nicht uns, wir werden nur in rascher Fahrt überholt. An der Sperre angekommen, finden wir ein weiteres Gendarmerie-Auto vor. Auf dem Boden liegt ein kräftiger Mann auf dem Bauch; mir fällt vor allem seine tätowierte Glatze auf. Aha – ein Gauner, denke ich. Zwei Gendarmen haben ihm den Arm auf den Rücken gedreht und knien auf ihm. Ein paar Meter weiter steht unmittelbar vor dem Felsgeröll eine große schwarze Limousine. Wir dürfen nicht weiterfahren und ziehen uns diskret ein Stück zurück. Es erscheinen nacheinander noch ein Jeep und ein Transporter mit je zwei Gendarmen darin. Nach etwa einer halben Stunde trauen wir uns wieder vor zur Sperre und dürfen – unter misstrauischen Blicken der Gendarmen, wie uns scheint – endlich passieren. Ich wage im Vorbeifahren einen Blick auf Gendarme, Gauner (im Clinch der Gendarme) und das große schwarze Auto. Mir wird klar: der Wagen ist gestohlen, der Gauner hat versucht, auf der alten Bahntrasse zu entkommen und ist in eine Sackgasse geraten, in der er nicht wenden konnte. So ist er für die Gendarmerie eine leichte Beute.
Hätte er doch ein Fahrrad gehabt mit nur zwei Rädern statt vieren! Wie leicht wäre er der Gendarmerie auf dem schmalen Pfad durch die Schlucht entkommen!
Text und Fotos: Günther Gräning |