Kleine Anarchie
Die Stadtteil übergreifende Radroute Nordweststadt-Innenstadt führt direkt durch den historisch gewachsenen Ortskern von Ginnheim. Beim alten Ginnheimer Dorfkirchlein fährt man links hoch durch die Ginnheimer Hohl, in der die Einbahn-Regelung aufgehoben wurde – was auch die Anwohner/ -innen und Geschäftsleute nach früheren Protesten inzwischen zu schätzen wissen. Die Radroute macht erst vor der Ampel an der Hügelstraße auf sich aufmerksam: eine Schaltschwelle auf dem hier beginnenden Radstreifen reagiert auf leichte Zweiräder. Südlich der Kreuzung war die Raimundstraße zu schmal, um Fahrrädern eine sichere Spur zuweisen zu lassen. Da muss rad eben durch! Bald wird die Straße dafür breit genug, und nun könnte man richtig genießen, per Rad Richtung Innenstadt unterwegs zu sein. Könnte! Links und rechts in Häusern, erbaut Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts, befinden sich Läden und Werkstätten. In den meisten stehen hinterm Tresen oder an der Werkbank Chef oder Chefin selbst. Die freuen sich über Kunden/-innen und Lieferanten, denn sie leben von ihrem Geschäft (und das meist seit Generationen). Von der spärlichen Wohnbevölkerung rundherum können sie das nicht. Auf dem Pendlerweg in die Stadt – oder zurück – stoppt mancheR Kunde oder Kundin gern, um Brötchen, Zeitung oder sonst was zu kaufen. Erfahrene Radler/innen wissen auch ohne Ortskenntnis, wo die ihre Karossen abstellen. Einer Studie von 2003 zufolge hat sich der Fahrradanteil am gesamten städtischen Verkehr innerhalb weniger Jahre von 6 auf 9 % erhöht, wow! Aber zu wenig, um „Nordweststadt-Innenstadt“ als Radler-Autobahn zu reklamieren. Faktisch wurde dem gewachsenen kleinteiligen Wirtschaftsleben per Radstreifen ein Halteverbot vor die Tür gemalt. Denn niemand käme auf die Idee, links der weißen Linie auf der Fahrbahn zu parken. Ohne Anlieferungen oder Käufer/ -innen braucht’s aber keinen Laden und keine Werkstatt. Sollten die nun dicht machen, damit Radler/ -innen im 5-Minuten-Takt den benutzungspflichtigen Radstreifen für sich allein haben? Abgesehen von einzelnen Auswüchsen hat man sich arrangiert. Nicht gerade erfreut, aber gelassen umradelt man die Hindernisse. Man ärgert sich über Spezialisten, die im Bewusstsein ihres verbotenen Tuns den Motor laufen lassen, um sich vorzutäuschen, sie hätten nur eben mal gehalten und nicht geparkt. Brötchen oder Zeitung auf dem Beifahrersitz, Kisten abgeladen, Briefe eingeworfen: nach wenigen Minuten fahren die meisten weiter, auch Hungrige mit grünen Fahrzeugen, die demnächst blau werden. Wenn die tägliche Anarchie nicht funktionieren würde – es wäre eine Katastrophe für die Existenzen und Arbeitsplätze am Rande der Radroute. Straßen ohne Läden sind öde. Das Miteinander und Links-dran-vorbei klappt eigentlich gut. Ich selbst habe das erst lernen müssen, auch wenn ich ins Geschäft radle und den Parkplatz im Hof meinen Kunden überlasse. Die Radroute Nordweststadt-Innenstadt ist die zweite Stadtteil übergreifende Radverbindung in Frankfurt, in den 90er Jahren einer noch ganz den Feinstaubemittenten huldigenden Politik mühsam abgerungen. Inzwischen gibt es für Menschen zu Rad in dieser Stadt einige Fortschritte, und die müssen verteidigt werden – am wirkungsvollsten durch viele Menschen, die mit ihren Fahrrädern davon Gebrauch machen. In Fußgängerzonen bei der Rücksicht voraussetzenden „Sowohl-als-auch“-Regelung radeln wir selbst schnell an die Grenze des Zulässigen. Beim Radfahren gegen (noch nicht freigegebene) Einbahnstraßen erwarten wir von Autos ja auch, dass sie halt ein bisschen Platz machen, und würden kaum verstehen, wenn sich da jemand drüber aufregt. Je nach Blickwinkel ist Schwarz tatsächlich manchmal Weiß. Keine einfache Botschaft – aber vielleicht eine, die ein wenig Nachdenken auslöst und das Miteinander in der Stadt erleichtert. Freya Linder |