Durch
die nördlichen Karpaten
... oder wo die Blockgrenze heute liegt – und zurück
durch Tschechien
Reisebericht von Wulfhard (Normalnotext) und Rainer (Kursivnotext)
Weil
uns für den Sommerurlaub immer noch nichts besseres einfällt
als in Osteuropa rumzuradeln (nicht nur wegen der günstigen
Bierpreise), hatten wir uns dieses Jahr vorgenommen, ein Stück
Westukraine "mitzunehmen", die Gegend um Lwow/Lemberg.
Um es vorwegzunehmen, daraus wurde nichts. An der Grenze zu diesem
Land wurde uns freundlich aber bestimmt erklärt, dass Touristen
neuerdings nur noch mit dollarschwerer Eintrittskarte (sprich Visum)
reindürfen.
Dahinter steckt noch die gute alte Ostblock-Gruppenreisedenke.
Die attraktiven Konditionen: Die Buchung aller Übernachtungen
muss nachgewiesen werden. In Frage kommen nur bestimmte Hotels in
größeren Städten, die z.T. weit auseinanderliegen
– optimal also für Radfahrer, die gern improvisieren.
So wurde aus der geplanten Reise in Kutschmas Reich eine Tour durch
die Slowakei, Polen und Tschechien.
Die Zugfahrt in die Slowakei begann nachts, fahrrad- und bahntechnisch
naheliegend über Köln nach Prag. Dort wurde uns verklart,
dass die Fahrradmitnahme im Zug über die knapp 10 Jahre alte
tschechisch-slowakische Grenze neuerdings nicht mehr möglich
wäre. Voller Verständnis für diesen Nachholbedarf
an abstrusen Regelungen, "praktizierter Tribalismus" und
"aha, die neue EU-Ostgrenze" in die Bärte brummelnd,
nahmen wir am Grenzbahnhof Horni Lidec unsere Fahrräder in
Empfang und radelten über die Grenze.
Von &Mac255;Zilina aus ging es dann mit der Bahn weiter nach Kysak,
dem geplanten Startpunkt der Exkursion. Nach einer Übernachtung
auf einem Berg mit bester Aussicht
(schwitz)
fuhren wir in
den nächsten Tagen über Michalovce, eine Schwimmrunde
im See als Ausgleichssport einlegend, zur ukrainischen Grenze bei
U&Mac255;zgorod. Nachdem uns dort klar gemacht wurde, dass sich
dort der neue, nun nicht mehr ganz so extreme Eiserne Vorhang durch
Europa befindet, radelten wir Richtung Norden weiter, gen Polen.
Für Liebhaber ursprünglicher Landschaften ist die Strecke
durch die Beskiden ein Genuss. In der Region soll es noch (bzw.
wieder) Wölfe, Braunbären und andere "Räuber"
geben. In einem Naturpark auf dem Weg zur polnischen Grenze bekamen
wir es allerdings mit nicht minder beeindruckenden Vertretern der
einheimischen Fauna zu tun. Am See unterhalb der Grenzberge hatte
jeder von uns einen Pulk von etwa 30 hungrigen Bremsen im Nacken.
Abhängen konnten wir sie nicht, trotzdem spornten sie uns noch
einmal zu Höchstleistungen an. Obwohl wir schon etwa 100 km
hinter uns hatten, strampelten wir "problemlos" (summ,
aua, patsch-patsch!) noch etwa 600 Höhenmeter über Schotterwege
hoch zum Ruske Sedlo, wo wir die Zelte direkt am Schlagbaum des
Fußgängergrenzübergangs aufschlugen.
Habe selten
so gut geschlafen wie nach diesem satten Trainingspensum.
Slowakische Grenzschützer hatten uns eingeschärft,
die Grenze auf keinen Fall vor 8 Uhr am nächsten Morgen zu
überqueren. Daraufhin erwarteten wir eine Zeremonie, zumindest
dass irgendwelche Uniformierten auftauchen, ein Fähnchen hissen
oder sonstwas. Wir wurden aber enttäuscht, und fuhren völlig
formlos auf der polnischen Seite runter nach Cisna.
Östlich
von diesem Ort ist die Gegend
(namens Biesczady)
bis zur
ukrainischen Grenze touristisch voll erschlossen, kam uns vor wie
ein überdimensioniertes Landschulheim. Weiter westlich hingegen
sind die Beskiden bis zur Hohen Tatra hin eher ein gottverlassenes
Idyll. Wenn man die Hauptstraßen verlässt und sich nicht
scheut, das Rad durch den einen oder anderen Bach zu tragen, kommen
Naturfreunde voll auf ihre Kosten – begeisterte Trekker und
Mauntenbaiker übrigens auch. Orthodoxe Kirchen, verfallene
Dörfer und Friedhöfe mit kyrillischen Grabinschriften
deuten hier darauf hin, dass die Beskiden früher dichter besiedelt
waren. Der Zweite Weltkrieg dauerte hier bis 1947, und während
des Kriegs zwischen einheimischen ukrainischen Nationalisten und
der polnischen Armee wurde die hiesige Bevölkerung fast komplett
deportiert.
Westlich vom Dukla-Pass überquerten wir wieder die Grenze zur
Slowakei und fuhren in einer langen Tagesetappe zur Hohen Tatra.
Angeblich das kleinste Hochgebirge der Welt – man kann in
einem Tag durchlaufen
. Wir legten einen Wandertag ein, um uns
mal anders anzustrengen,
spürend, dass dabei z.T. andere
Muskeln beansprucht werden
. Bis zur Berghütte Zbojnicka
Chata war die Wanderung bei dem dieses Jahr seltenen Superwetter
die Teilnahme an einer Massenprozession, mit "Bergsteigern",
die mit Badelatschen, Bikinis oder unbedecktem Bierbauch ausgerüstet
waren. Richtig in Ruhe bergsteigen kann man erst ab 2.000 m Höhe
–
da sieht man dann auch keine Badelatschen mehr, aus technischen
Gründen ;-)
. Trotz des Rummels lohnt sich ein Abstecher
in die Hohe Tatra immer.
Weiter ging es dann Richtung Tschechien, durch Städte mit hübschem
Altstadtkern und weniger hübscher "Architektur für
den Neuen Menschen" in den Außenbezirken. Von der Landschaft
und vom Straßenzustand her
(es gibt auch hübsche autofreie
asphaltierte Strecken)
ist die Slowakei,
wenn man es denn
hügelig mag
, ein lohnendes Ziel für Radtouren, allerdings
kann die etwas schwerfällige Gastronomie hin und wieder ein
Bremsklotz sein. Zwei Stunden Fahrtunterbrechung sollte man bei
einer "Konsumpause" schon einkalkulieren –
Wulfhards
Meinung. Lange Wartezeiten sind eigentlich selten, relevanter scheint
mir das Problem, in manchen Gegenden zum nächsten warmen Essen
evtl. ein paar Stunden fahren zu müssen.
Wieder über &Mac255;Zilina mit seinem glockenspielbewehrten
Rathaus ging es dann zurück in die Tschechische Republik, wo
wir uns südlich von Olomouc trennten. Ich fuhr die nördliche
Route über Königgrätz nach Zittau zur Bahn-Heimreise
(zum leidigen Thema Bahn und Rad und damit verbundenen neuen Abenteuern
im nächsten Heft mehr); Rainer südlich über den Böhmerwald
nach Hause.
Der hatte nun ein bisher unbekanntes Problem: Ich hatte noch
fast drei Wochen Zeit, und war rückfahrtmäßig nun
schon in Mähren. Bei meinem üblichen Reiseschnitt, 80
bis 100 Luftkilometer pro Tag, wäre ich viel zu schnell wieder
zu Hause gewesen. Ich musste ein Arsenal von Tricks anwenden, um
langsam genug zu werden: Spät losfahren, früh lagern.
Sehenswürdigkeiten mitnehmen (sonst nicht mein Stil). Umwege
einbauen, plus zeitintensive "Abkürzungen" durch
Naturparks und Militär-Sperrgebiete. Und ausgiebige Konsumpausen,
die Mittagshitze nach Art des Landes ablaschend mit ein, swei, dings
Bier bekämpfend. Die Maßnahmen waren erfolgreich, sie
drückten den Schnitt auf 40 Luftkilometer ;-)
Auf dem Rückweg rollte ich mal wieder den Böhmerwald auf,
parallel zur österreichischen und deutschen Grenze. Besonders
attraktiv an meiner Lieblingsgegend finde ich die dünne Besiedelung,
die schon bei einem Blick auf die Karte ins Auge springt. Zur Zeit
des eisernen Vorhangs wurden nicht nur die Deutschen vertrieben,
die grenznahen Regionen wurden systematisch entsiedelt. Was auch
immer man davon halten mag, Touristen profitieren heute davon.
Man kann tagelang "Wanderwege" fahren, die fast durchgehend
asphaltiert sind, die meisten sind für den Autoverkehr gesperrt.
Die von mir gewählte Route durch den Böhmerwald bin ich
Anno '96 schon mal gefahren. Der große Unterschied: Damals
war ich praktisch der einzige Radtourist, mir die Route aus Wanderkarten
zusammenpuzzelnd. Nun aber begegnete ich mehr Radtouris als Wanderern,
die meisten tagestourmäßig aus AU oder D kommend. Die
Ursache des erstaunlichen Vorher-Nachher-Effekts sind simple Tourismusförderungsmaßnahmen
– einheitliche, flächendeckende Markierung von Radwanderrouten
und die passenden Karten dazu. Leider gehörte zur Förderung
auch, eine hübsche Downhill-Schotterstrecke mit atemraubenden
20% zu asphaltieren – diese Spielverderber!
A propos Radrouten... in Tschechien wurden quasi über Nacht,
von einem Jahr aufs nächste, mehrere tausend Radrouten ausgeschildert,
fast flächendeckend übers Land verteilt. Die Wegweisungsschilder
sind gut sichtbar, verständlich, lückenlos – und
einheitlich. Die meisten Routen sind schlicht autoarme Nebenstraßen.
Erstaunlich, was man alles machen kann... in Deutschland kriegt
man dergleichen ja in absehbarer Zukunft nicht gebacken, dafür
gibts viel Getöse um den großengroßen Masterplan
Fahrrad.
Spontan bastelte ich schon mal eine Böhmerwald-Campingtour
fürs nächste Frankfurter Tourenprogramm zusammen. Was
war noch? Ich machte einen Abstecher in ein Militärsperrgebiet,
wo ich an einem See zeltete, umgeben von Militärzweckbauten,
standesgemäß in Tarnfarben gescheckt bemalt – aber
hübsch, babyblau und rosa! Weniger nett fand ich, am nächsten
Morgen von Geschützdonner geweckt zu werden und dann quer durch
ein Manöver weiterfahren zu müssen, unter den Augen von
einigen hundert mit Geschützen beschäftigten Uniformierten,
an einem Flugplatz und besetzten Wachtürmen vorbei. Erstaunlicherweise
machte keiner Anstalten, mich anzuhalten, man grüßte
halt freundlich. Die Bunnzwehr hätte wohl weniger gelassen
reagiert, ich fühlte mich an den braven Schwejk erinnert...
nein, dieser Abstecher gehört nicht zur angedachten ADFC-Tour
;-)
Mittlerweile hatte die Jagdsaison begonnen. In Tschechien wird sehr
viel gejagt, jeden zweiten Tag stieß ich beim Wildzelten auf
Waldrand-Wiesen auf Vertreter der Zunft. Die allgemeinen Spielregeln:
Zelten und Pirschen passt schlecht zusammen, also entweder oder.
Ich halte mich an die Grundregel "wer zuerst kommt, mahlt zuerst"
– es sei denn, es dämmert schon, oder die Herren der Zunft
sind zu blind, mich wahrzunehmen, dann geschieht es ihnen recht,
nichts vor die Flinte zu bekommen, sie würden das Wildbret
wohl eh nicht sehen. Ansonsten verdrück' ich mich. Bin ich
zuerst da, verdrückt sich Hubertusfraktion. Die meisten sehen
den Sachzwang (schlecht gelaufen, gehn wir halt woanders ballern)
bereitwillig ein. In hartnäckigeren Fällen reicht etwas
Überzeugungsarbeit (beiläufig mit Kochtöpfen klappern,
Kippe anstecken, laut reden) zur Förderung der Einsicht.
Zum Schluss noch ein viel schrägeres Outdoor-Erlebnis... ich
hatte mein Camp auf einer Waldlichtung im Böhmerwald aufgeschlagen.
Erst später, auf dem üblichen Abendspaziergang in der
Dämmerung, stieß ich auf ein riesiges Schild, das mein
Camp als besonders schutzwürdiges Biotop auswies. Laut Schild
war dort (eine eingezäunte Wirtschaftwiese mit Kuhfladen drauf!)
so ziemlich alles verboten, was Menschen in freier Wildbahn unternehmen
könnten, außer halt auf den Wanderwegen zu bleiben und
dabei bitteschön keine Bienen zu stören. "Dumm gelaufen"
dachte ich grade, da erschreckte mich ein lautes Scheppern in der
Nähe. Urheberin des Geräuschs war eine unbemerkt aufgetauchte
ältere Frau, die ihr Fahrrad auf den Weg schmiss, flugs in
den Büschen verschwand und alsbald mit zwei großen Plastikeimern,
die randvoll mit irgendetwas Schwerem gefüllt waren, wieder
auftauchte und sie an den Lenker hängte. Erst dabei bemerkte
sie mich, direkt vor ihr stehend. Ich habe selten einen Menschen
so erschrecken sehen. Beinahe hätte sie die Heidelbeeren ausgeleert.
Meine trägen grauen Zellen reagierten ausnahmsweise in Echtzeit,
ich outete mich sofort als harmloser deutscher Tourist – was
sie ungemein beruhigte. Als ich meinen Spaziergang auf dem steilen
und sehr unebenen Trampelpfad fortsetzte, schob sie ihr Rad hinter
mir her, sie war erstaunlich schnell. Die Beerenklauerin hatte es
verdammt eilig, ihre offenbar tagsüber gepflückte und
versteckte Fracht im Schutz der Dämmerung heimzubringen. Sie
hatte sogar die Puste, mich dabei in ein Gespräch zu verwickeln.
Als wir gerade 15 Meter neben meinem (vom Weg aus natürlich
nicht sichtbaren) Zelt vorbeiliefen, fragte sie, in welchem Hotel
ich wohne. Da näherten sich meine auch so schon bescheidenen
Tschechischkenntnisse rapide dem Nullpunkt, und an den Namen meines
Hotels konnte ich mich auch nicht erinnern. Schließlich wählte
ich aus den von ihr angebotenen Namen einen kernigen aus, irgendwas
mit 'Solidarität'. Das Erreichen eines guten Fahrwegs schützte
mich vor weiteren naseweisen Fragen; die Frau stieg auf und sprintete
los. Ich wäre an ihrer Stelle viel langsamer gefahren, mit
den schweren Eimern am Lenker, aber sie hatte offenbar Übung
darin. Auf dem Rückweg zum Zelt überkam mich ein Grinsanfall:
Naturschutzfrevler unter sich ...