Korsika
– Gebirge im Meer
Aus meinem Tourtagebuch, Teil 2
10. Mai
2001
(Corte – Cozzano)
Zu
unserer großen Freude hat sich das Wetter gehalten. Doch nach
der gestrigen Etappe sind die Beine müder geworden, und zum
ersten Mal verschafft sich ein zwar noch kleiner, aber vorhandener
Gedanke an einen halben bis ganzen Ruhetag Zutritt in meine Überlegungen
zur Tagesplanung. Doch noch fehlt es ihm an konkretem Durchsetzungsvermögen.
Wir brechen erst mal auf und wollen einen kleinen Abstecher in das
Tal der Restonica machen. Nach etwa 5 km treffen wir erneut auf
jenes am Vortag kennengelernte Verkehrsschild, welches uns darauf
aufmerksam macht, dass die Weiterfahrt gesperrt ist. Wieder Pech
gehabt! Also lenken wir unsere Drahtesel Richtung Süden, und
legen die nächsten gut 20 km auf der Nationalstraße bis
Vivario zurück. Dort wollen wir abzweigen, um über den
Col de Serba (1310 m) nach Ghisoni zu gelangen. Der Reiseführer
kündigt für die ersten 1,5 Kilometer eine respekteinflößende
Steigung von 16% an. Daher schiebe ich, zwar nicht das Fahrrad,
aber mir noch ein paar Traubenzucker in den Mund. Vielleicht hilft’s
ja. Dann fahre ich los, immer darauf wartend, dass endlich die sich
erhöhende Schwere des Tritts die ersten Anzeichen gibt für
den Beginn der Tortur. Aber es geschieht nichts gravierendes. Der
Reiseführer hat geirrt. Das Beäugen des Tachos ergibt
mathematisch die Hälfte der angekündigten Wahrheit. Als
mir mein Bruder plötzlich wieder entgegenkommt, erfahre ich,
dass wir, beginnend mit dem gestrigen Abend, anscheinend wirklich
der Route der korsischen Straßenausbesserungstrupps folgen,
denn auch diesen Pass werden wir nicht zu sehen bekommen. Leicht
genervt werfen wir einen Blick auf die Karte, stellen fest, dass
es eine andere, wenn auch längere Alternative gibt, und setzen
unsere Tour auf diesem Wege fort. Das mit dem halben Ruhetag verschwindet
für heute endgültig aus meinen Gedanken. Dafür ist
der Anstieg von ca. 500 Höhenmeter auf den Col d’Erbajo
(920 m) mit einer moderaten Steigung versehen, so dass sich die
Sinne währenddessen von der Umgebung berühren lassen können.
Nachdem wir das Dorf Muracciole auf einem kleinen Sträßchen
verlassen haben, herrscht himmlische Ruhe, unterbrochen nur von
dem Schlagen der Kirchuhr und dem Gebell eines Hundes. Eine Eidechse
taucht auf, rennt am Straßenrand im gleichen Tempo neben mir
her, dann verschwindet mein kleiner Begleiter wieder im hohen Gras.
Der Ruf des Kuckucks ertönt und ein Bergbach plätschert
dahin. Kein motorbetriebenes Vehikel betätigt sich als Störenfried.
Idylle pur. Die spärlich aufkommenden Wolken bilden ein sich
bewegendes Licht- und Schattenspiel über dem bewaldeten Tal.
Und wir schrauben uns höher und höher. Mit jeder Kurve
bleibt das Dorf ein Stückchen weiter im Tal unter uns zurück,
bis es nach einer weiteren Kurve ganz aus unserem Blickfeld verschwindet.
Oben angekommen gibt es eine kleine Rast, bevor das alte Hoch-Runter
Spiel sich fortsetzt und es wieder auf 300 m hinab geht. Durch diesen
Umweg kommen wir immerhin in den Genuss, zwei weitere interessante
Felsschluchten, die Defile de I’Inzecca und die Defile de Strette,
zu durchfahren, bis wir unser geplantes Ziel Ghisoni erreichen (660
m). Der optische Eindruck, den wir von dem Ort erhalten, ist kein
allzu positiver und daher beschließen wir, noch ein Teilstück
an diese heutige Etappe dranzuhängen. Es ist ca. 16:30 Uhr
und wir wollen noch über den Col de Verde (1289 m). Am Ortsausgang
trauen wir unseren Augen nicht: jenes hässliche, uns wie in
einem Alptraum verfolgende Schild taucht urplötzlich aus der
Versenkung wieder auf: "Pass gesperrt". Ein Blick auf
die Karte überzeugt uns, dass wir diesmal keine andere Option
haben, es sei denn wir fahren denselben Weg wieder zurück und
schmeißen unsere geplanten Etappen völlig um. Nein, diesmal
nicht. Der Anstieg zieht sich über 17 km, und das Schild sagt
aus, dass nach 9 km Ende sein soll. Wir riskieren es und setzen
uns in Bewegung. Bald darauf kommen uns zwei LKW’s, beladen
mit Felsbrocken, entgegen. Danach niemand mehr. An der Sperre angekommen,
sehen wir, dass sich dahinter eine neu asphaltierte Straße
befindet. Wir fahren weiter, etwa 2 km, dann erscheint ein neues
Schild: "Pass gesperrt in 3 km". Als die avisierte Kilometerangabe
erreicht ist, merke ich schnell, dass es sich diesmal um eine sehr
viel realistischere Sperre handelt: Die Straße existiert nämlich
überhaupt nicht mehr, lediglich ein Haufen von weggesprengten
Felsbrocken türmt sich vor mir auf. Mein Bruder ist wie vom
Erdboden verschwunden. Meine Rufe werden von ihm nach einiger Zeit
erwidert, er erscheint etwa 15 m oberhalb, an einer Stelle, zu der
ein sehr steil angelegtes Stück felsbrockenfreie Zone führt.
Dies ist unser Licht am Ende des Tunnels. Halb schiebend, halb tragend
hieve ich mein Rad samt Gepäck den Hang hinauf und treffe auf
einen Durchgang, der vorhanden ist, um irgendwie noch den Kontakt
zu dem ursprünglichen Straßenverlauf zu erhalten. Auf
dieser Verbindung gelangen wir wieder auf den rechten Weg, und können
unseren Anstieg fortsetzen. Gut, dass sich die Straßenausbesserungstrupps
an die tariflich vorgegebenen Arbeitszeiten gehalten haben, sonst
hätten wir wohl ein Problem gehabt. Oben auf dem Col finden
wir die potenziell vorhandene Übernachtungsmöglichkeit
nicht vor, so dass es gleich wieder in rasanter 18 km langer Abfahrt
hinunter geht, bis wir in Cozzano (725 m) gegen 19:15 Uhr eine Gite
d’etape entdecken, die uns aufnimmt. Dort treffen wir zwei
belgische Wanderer, und mit Hilfe deren Sprachkenntnissen können
wir den Wirt überzeugen, unsere seit Tagen mitgeschleppten
Nudelvorräte in den vorhandenen Kochvorrichtungen zubereiten
zu dürfen. Das wird in anderen Gites nicht so gerne gesehen,
aufgrund des i.d.R. angegliederten Restaurantbetriebes. Beim Ablesen
der statistischen Daten des Tages fällt dann auf, dass wir
uns mit der Königsetappe von gestern glatt vertan haben; heute
haben wir noch einen (kleinen) draufgesetzt, ganz ungeplant, vom
reparaturbedürftigen korsischen Straßennetz aufgezwungen.
Statistik: 113 km/ 2250 hm.
12. Mai 2001
(Zonza – Aleria)
Der Wecker klingelt nach 11 Stunden Schlaf um 8:30 Uhr ausgesprochen
spät, soll es doch heute etwas gemächlicher vonstatten
gehen. Für einen Ruhetag ist uns der Ort allerdings nicht passend
genug, deshalb wollen wir noch runter an die Ostküste. Der
Tag scheint erneut ein trockener zu werden, und damit ist des Radlers
größter Wunsch bereits erfüllt. Wir starten gegen
10:00 Uhr und begeben uns schnurstracks zu der bereits am Vorabend
ausgekundschafteten Boulangerie. Wir sind noch etwa 50 m entfernt,
als eine Frau dieselbige verlässt, in ein Auto springt und
davonbraust. Als wir kurz darauf die Stätte der allmorgendlichen
Stärkung erreichen, ist diese geschlossen. Wir lugen hinein,
kein Mensch zu sehen. Wir warten, klopfen sanft. Nichts geschieht.
Klopfen etwas stärker, mit dem gleichen Resultat. Tja, ohne
Kenntnis des korrekten Zauberspruchs geht hier offensichtlich gar
nichts. Was soll’s, jetzt, wo wir uns die Auswahl der Backwaren
etwas genauer ansehen, erscheint uns diese sowieso eher spärlich,
und ein konkretes Hungergefühl hat sich eigentlich auch noch
nicht eingestellt. Also fahren wir einfach los. Der Col de Bavella
(1218 m) lockt auf den folgenden 9 km. Die Strecke verläuft
durch Kiefernwald, an einem Hippodrom vorbei, ab der 1000-Meter-
Höhenlinie weht einem in einigen Kurven unangenehm der Wind
entgegen und wir kommen den Wolken immer näher. Ein paar von
den als Notration eingepackten Keksen geben neue Energie. Als wir
die Passhöhe erreichen, verhüllt sich diese in Wolken
und es herrscht einiger Trubel, verursacht durch mehrere Busladungen
Touristen. Anscheinend ist hier oben die Hauptattraktion eine Madonnenstatue,
die mit zahlreichen Danksagungsschildern versehen ist, soweit ich
das entziffern kann. Uns drängt es angesichts dieses ungewohnten
Menschenmassenaufkommens und der deutlich gesunkenen Temperatur
recht schnell wieder hinunter. Was dann folgt, ist eine Abfahrt,
die es in sich hat – und keine echte Freude aufkommen lässt,
weil durch das enorme Gefälle ein permanentes Bremsen von Nöten
ist, und zusätzlich sich der Straßenbelag teilweise im
Zustand des Flickenteppich befindet. Als wir die erste Senke erreichen,
zeigt der Tacho an, dass wir auf 8 km knapp 700 m an Höhe verloren
haben. Der Blick auf die schroffen Bergketten ringsherum ist, wie
fast immer, atemberaubend, auch wenn die höchsten Gipfel sich
leider mit einem Mantel aus Wolken umgeben haben. Nach einem kurzen
Anstieg geht es dann weiter sehr steil bergab, Richtung dem am Meer
gelegenen Solenzara. Angesichts dieser Abfahrten erscheint die umgekehrte
Richtung hinauf zum Col de Bavella aus dem Blickwinkel des Radtouristen
die größte Herausforderung auf Korsika zu sein. Je weiter
wir hinabfahren, desto mehr spürt man die von der Sonne erwärmte
Luft, in der es herrlich nach Kiefern riecht. Plötzlich, nach
dem Erklimmen eines kleinen Hügels, sehe ich das blaue Meer
in der Ferne auftauchen und bald darauf weht uns auch sein salziger
Duft um die Nase. In Solenzara fahren wir zum Hafen, lassen uns
auf den dort angehäuften Felsen nieder, lauschen dem Plätschern
der Wellen und halten Mittagspause. Anschließend geht es flach
weiter, überwiegend an der Küste entlang, notgedrungen
auf einer der meistbefahrenen Nationalstraßen. In Aleria wird
an Ausgrabungen jener ehemaligen Römerstadt gearbeitet, deren
Untergang maßgeblich von zwei unbeugsamen Galliern hervorgerufen
wurde, die sich ein paar Jahrtausende vor uns ebenfalls auf eine
Reise nach Korsika begeben hatten (nachzulesen im großen Asterix-Band
XX, Seite 38 ff). Wir erblicken zum ersten Mal auf unserer Tour
ein Chambre d’hote (bed & breakfast), und ergattern glücklicherweise
ein Zimmer.
Statistik: 77 km/750 hm.
13. Mai 2001 (Aleria)
Schon als das Wecksignal zum Aufstehen ertönt, wird mir schlagartig
bewusst, dass meine Motivation zum Weiterfahren heute nicht nur
gegen Null tendiert, sondern definitiv gleich null ist. Mit sanfter
Gewalt lässt sich mein Bruder davon überzeugen, und da
ist er nun endlich: der Ruhetag. Die Sonne knallt und wir verbringen
ihn damit, uns anzuschauen, was nach der damaligen Verwüstung
Alerias durch die geballte korsisch-gallische Freundschaft noch
übrig geblieben und nun wieder zu Tage gefördert worden
ist. Viel ist es nicht mehr, und so statten wir dem 4 km entfernten
Strand einen Besuch ab. Dieser ist menschenleer, gefüllt jedoch
mit reichlich Strandgut und es gibt kein bisschen Schatten. Um letzteres
will ich mich später kümmern, zunächst lockt die
Erkundung per pedes des etwa 3 km langen Strandverlaufes bis zur
Spitze der Bucht. Dort angekommen stelle ich fest, dass die Bucht
tatsächlich zu Ende ist, mache kehrt und begebe mich joggenderweise
auf den Weg zu meinem lesenden Bruder zurück, um mir, mittlerweile
entsprechend aufgeheizt, ein Abkühlungsbad im Mittelmeer zu
gönnen. Und es ist gar nicht so kühl, wie befürchtet,
10 Minuten halte ich es planschend locker aus. Dann beginne ich,
aus dem angeschwemmten Treibholz einen schattenspendenden Verschlag
aufzutürmen, nicht nur, weil ich uns nicht länger schutzlos
der heftig herunterbrennenden Sonne aussetzen möchte, sondern
auch, weil’s einfach Spaß macht. Mein Werk ist der Vervollkommnung
ziemlich nahe, als wir beschließen, dass die Temperaturen
eigentlich doch nichts für uns sind. Wir ziehen eine Siesta
vor. Spontan dehnen wir diese dann bis zum nächsten Morgen
aus, unterbrochen lediglich vom Einkaufen der notwendigen Zutaten
für ein neues Kapitel unserer kulinarischen Entdeckungsreise
(Marke "Baguette, Käse, Rotwein"), nebst ausgiebigster
Konsumierung desselbigen.
Statistik: 13 km/80 hm.
(wird noch einmal fortgesetzt) (cm)