Korsika
– Gebirge im Meer
Aus meinem Tourtagebuch
3. Mai 2001
Es ist ein warmer Frühlingstag, als ich nachmittags mit dem IR von Frankfurt nach Heidelberg fahre.
Dort Wechsel in den IC nach München, wo mich mein Bruder, aus Dresden kommend, bereits erwartet. Der Nachtzug nach Florenz wird gegen 23:00 Uhr bereitgestellt, wir verstauen die Räder, möglichst rüttel- und diebstahlsicher, an den Seitenwänden des Gepäckwagens und beziehen unsere Schlafpritschen im Liegewagen. Es ist kurz nach Mitternacht, der Wunsch nach Schlaf wird heftiger und das monotone Rattern des Zuges hilft recht bald, diesen auch zu finden.
4. Mai 2001
Ankunft in Florenz gegen 9:00 Uhr. Kurzen Eindruck von der Stadt gewinnen, dann weiter mit einem Regionalzug nach Livorno. Am frühen Abend warten wir im Hafen auf das Eintreffen der Fähre. Und warten... Eine Menge Schiffe treffen ein, das unsere scheint nicht dabei zu sein. Es wird langsam dunkel, als sich mein Bruder auf die Suche macht. 1 Stunde später wird er fündig: unsere Fähre liegt seelenruhig an einem ganz anderen Ort als ausgewiesen, aber sie existiert immerhin. Wir schieben, kurz vor Toreschluss, die Räder in den gähnend leeren Bauch der Fähre. Was uns dann nicht mehr auf Anhieb gelingt, ist das professionelle Befestigen an der Schiffswand. Unsere Versuche, dieses mittels bereitliegender Taue zu bewerkstelligen, scheitern wohl in den Augen eines uns beobachtenden Seemannes kläglich, denn kurzerhand löst er die von uns den Tauen beigebrachten Verknotungen und zurrt die Fahrräder mit einigen kunstvoll aussehenden Handgriffen fest. Leider zu schnell für unsere staunenden Augen... und so werden wir uns für die Rückfahrt etwas anderes einfallen lassen müssen.
Wir schleppen das Gepäck ein paar Decks nach oben in unsere 2- Bettkabine, begeben uns in den Speisesaal, und versuchen, die restlichen Lira gegen ein warmes Abendessen einzutauschen. Dieses wiederum glückt uns dann vortrefflich und so schlummern wir bald der frühmorgendlichen Abfahrt entgegen.
5. Mai 2001
(Bastia – Centuri-Port)
Als wir gegen 8:30 Uhr am Frühstückstisch sitzen, ertönt das Signal zum Ablegen und es beginnt der letzte Abschnitt der fast zweitägigen Anreise, deren Dauer hauptsächlich durch die zu dieser Jahreszeit nicht ganz optimale Vertaktung zwischen Bahn und Schiff bestimmt wird.
Je näher wir Korsika kommen, desto mehr zieht sich der Himmel zu. Als wir uns nach knapp 4 Stunden dem Hafen von Bastia nähern, hängen die Wolken tief über der Insel. Zusammen mit ca. 50 PKWs, einigen LKWs und Motorrädern verlassen wir die Fähre und halten erst einmal eine Lagebesprechung ab. Der Reiseführer empfiehlt eine Umrundung im Uhrzeigersinn, u.a. kann man zunächst die Kondition aufbauen für die schwierigere Westküste, an derselbigen fährt man an der sicheren Bergseite und der Wind kommt dort eher von hinten. Solch einleuchtenden Argumenten hatten wir eigentlich folgen wollen, werfen diese Überlegungen jedoch angesichts der im Süden noch dichter erscheinenden Wolkenmassen schnell über den Haufen und orientieren uns an der einzigen, einigermaßen noch als hell zu bezeichnenden Stelle am Himmel: Richtung Norden, um das Cap Corse herum, welches eine Ausgabe von Korsika quasi im Miniaturformat darstellt.
Bevor wir uns aber endlich auf die Sättel schwingen können, gilt es, für eine Nahrungsmittelgrundausstattung zu sorgen: Wasser, Baguette, Käse, Schinken, Obst, Gemüse, Kekse, Schokoriegel. Um es gleich vorwegzunehmen: die weiteren kulinarischen Erlebnisse der nächsten 2 Wochen spiegeln sich in etwa in dieser Komposition wieder. Wenn möglich, korsische Erzeugnisse, abgerundet immer mit einer guten Flasche Rotwein, unterbrochen hin und wieder tatsächlich von einer warmen Mahlzeit.
Jetzt aber los! Bei leichtem Wind und 17°C geht es ohne große Höhenunterschiede an der Küste entlang bis nach Macinaggio kurz vor der Spitze des Cap Corse, links immer die wolkenumhüllten Berge und rechts das Meer. Da ich mit meinem Bruder einen in Sachen Flora und Fauna bewanderten Begleiter bei mir habe, weiß auch ich nun, dass Ginster und Zistrosen blühen, und selbst meine vom Frankfurter Smog malträtierte Nase ist noch in der Lage, die in der Luft liegende würzige Duftmischung wahrzunehmen.
Als wir bei Macinaggio in die Berge abbiegen, beginnt es dann doch zu nieseln, und mit jedem Kilometer wird der Regen heftiger. Na, das ist ja ein schöner Auftakt, und mit dem Gedanken, ob eine Regenhose nicht doch die bessere Entscheidung gegenüber der Badehose gewesen wäre, stoppen wir und suchen erst einmal Deckung unter dichtem Buschwerk. Die Temperatur hat inzwischen nicht mehr ganz so angenehme 10°C erreicht, doch nach etwa einer Stunde werden wir erlöst und setzen den ersten leichten Anstieg dieser Tour zum Col de Serra (365 m) fort. Die Passhöhe erreichen wir im Nebel, so dass wir auf den wunderbaren Blick, der uns im Reiseführer schmackhaft gemacht worden ist, leider verzichten müssen. Dafür dürfen wir uns über eine erste kleine Abfahrt freuen, die uns an die Westküste des Cap Corse bringt, an die Abzweigung zu dem winzigen Ort Centuri Port, der 250 m unterhalb der Straße, direkt am Meer liegt. Die spannende Frage ist nun, ob wir das Hinunterfahren riskieren sollen, um zu versuchen, ein Zimmer in einem der beiden angekündigten Hotels zu ergattern; wenn’s nicht klappt, dürfen wir gleich wieder nach oben zurück. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und den anscheinend nicht zahlreich vorhandenen Übernachtungsmöglichkeiten entscheiden wir uns für das Ausprobieren – und haben Glück!
Statistik: 57 km/650 hm.
7. Mai 2001
(I’lle-Rousse – Galeria)
Auch heute ist die erste Aktion, nach Ertönen des Weckers, dem Erkunden des aktuellen Wetters gewidmet. Wir öffnen die Vorhänge – und ein trüber, wolkenverhangener Himmel lässt nicht gerade Freude aufkommen. Nun, irgendetwas muss diesen teilweise üppigen grünen Bewuchs der Insel schließlich ja gedeihen lassen, aber warum denn unbedingt gerade jetzt?
Wieder Beratung, mit dem Ergebnis, weiter die Westküste hinunterzufahren und die Berge im Inselinneren erst mal außer acht zu lassen. Das Ziel der heutigen Etappe heißt: schnell durch- und ein bisschen weiterkommen.
Hinter I’lle Rousse erkennt man, woher sich der Name dieser Stadt ableitet: rotfarbene Felsen säumen die Küstenstraße. Der Verkehr wird (trotz – unvermeidbarem – Befahren einer Nationalstraße) merklich weniger, das Wetter hat auch seine guten Seiten. Hinter Calvi wird der Straßenbelag immer rauher und damit schlechter. Der beste Teil ist noch der Bereich der Mittellinie. Nach etwa 3 Stunden hört der Regen tatsächlich mal auf. Sowohl die Schuhe als auch die obersten Hautschichten der Füße befinden sich mittlerweile im Stadium der völligen Durchweichung. Aber wir sind ja nur noch gut 20 km von unserem Ziel Galeria entfernt. Plötzlich werden wir in einer Kurve zum ersten Mal mit der einheimischen wilden Tierwelt konfrontiert. Auch ohne meinen Bruder konsultieren zu müssen, erkenne ich auf Anhieb, dass es sich um eine Gruppe verwilderter Hausschweine handelt (ich habe meinen Asterix gelesen!), die die Straße besetzt halten und so unsere Weiterfahrt erschweren. Wir bremsen sofort mit großem Respekt ab und kommen kurz vor der Gruppe zum Stillstand. Während ich noch überlege, ob genug Sicherheitsabstand vorhanden ist, um den Fotoapparat in Aktion treten zu lassen, nähert sich von der Gegenrichtung ein Fahrzeug und rückt das Kräfteverhältnis auf der Straße kurz und bündig wieder zurecht.
5 km vor Galeria werden wir von dem schlechten Straßenbelag erlöst und ein top asphaltierter Weg beginnt. Was allerdings ebenfalls schlagartig beginnt, ist ein heftiger Regenschauer, der uns veranlasst, unserem Ziel, einer Gite d’etape (Art Jugendherberge), schnellstmöglich entgegenzuradeln. Weit kann es nicht mehr sein. Spannend wird’s erneut, als wir die Gite erreichen. Jetzt ein "Belegt" vorzufinden, würde unserer Stimmung eher abträglich sein. Wir hoffen jedoch, das alles gut wird, und so kommt es auch. Nach dem Herauspellen aus den nassen Klamotten bringt die langersehnte heiße Dusche die Lebensgeister wieder zurück. Oh, es fühlt sich großartig an!
Eine halbe Stunde nach uns trifft ein weiterer Leidensgenosse in der Gite ein. Dies wird der einzige direkte Kontakt zu anderen Radlern sein, weil diese erstens noch nicht so zahlreich über die Insel fahren und zweitens im Gegensatz zu uns eher ein mehr campingorientiertes Übernachtungskonzept haben. Es schüttet weiterhin wie aus Kübeln, was unsere Wirtin zu der Feststellung veranlasst: "wie im Winter". Dann bietet sie uns den Platz vor dem knisternden Feuer zum Trocknen unserer Kleider an und serviert ein wohlschmeckendes Abendessen aus korsischem Salat, Ratatouille, Käse, Kuchen und Rotwein. Wie kann die Welt doch schön sein!
Statistik: 77 km/830 hm.
9. Mai 2001
(Sagone – Corte)
Es steht fast kein Wölkchen am Himmel! Kurzes Abwägen der Routenalternativen, einschließlich des mittlerweile doch merklich vorhandenen Muskelkaters. Dann die Entscheidung: jetzt oder nie, es ist der Tag für die Berge, wir können sie förmlich rufen hören! Um auf den höchsten befahrbaren Pass Korsikas (Col de Vergio, 1467 m) zu gelangen, ist ein langer Anlauf nötig und so geht es zunächst über 10 km auf den Col de St. Antoine (491 m), ein kleiner Aufgalopp im Vergleich zu den sich anschließenden 8 km hinauf zum Col de Sevi (1101 m). Der erste und besonders die letzten 1,5 Kilometer mit über 10% Steigung sind für mich die bis dahin schweißtreibendsten Erfahrungen auf einem Fahrrad. In diesen Momenten, wenn es nur noch darum geht, Meter für Meter zurückzulegen, wie auch immer, beginne ich mich zu fragen, warum ich diesen Unsinn eigentlich mache und nicht einfach vom Rad steige. Aber dann kommt mir plötzlich jenes legendäre Zitat von Udo Bölts, geäußert zu Jan Ullrich, in den Kopf, das ich nun auch gegen mich selbst verwende: "Quäl Dich, Du S...!". Und es nützt. Irgendwie komme ich oben an, wo mein Bruder schon auf mich wartet. Ein paar Schlucke Wasser, ein kleiner Schokoriegel, das Anlegen der Windjacke (denn wir sind drauf und dran, die eben gewonnenen Höhenmeter gleich wieder teilweise zu verlieren), und schon geht’s hinab nach Cristinacce (785 m), wo wir uns niederlassen, um weitere Nahrungsmittel aufzunehmen. Den rasch auf der Bildfläche erscheinenden Dorfhunden, die uns neugierig beschnuppern, können wir außer ein paar Anstandsbrotstückchen leider nichts anbieten. So gestärkt, begeben wir uns nun auf den Anstieg zum Col de Vergio. Der Weg führt auf 14 km durch Kiefernwald, in vielen Kurven immer höher hinauf. Durch die Gleichmäßigkeit der Steigung braucht man, einmal im Rhythmus drin, einfach nur zu treten und sich irgendwie die Zeit zu vertreiben. Wie gut, dass ich mir vor der Reise einen neuen Tacho mit vielfältigsten Funktionen zugelegt habe, mit dem kann ich mich herrlich beschäftigen, wenn’s mal zu langweilig wird.
Oben angekommen, haben wir das gröbste für heute geschafft. Es ist 14:00 Uhr, und nun geht es fast nur noch: abwärts!!! Das beginnt gleich mit den nächsten 22 km: einfach nur rollen lassen und den herrlichen Rundumblick genießen. Über Calacuccia (812 m), das an einem Stausee liegt, geht es immer weiter bergab bis auf etwa 300 m, durch eine grandiose Schlucht, die Scala di Santa Regina, ein weiteres Highlight unserer Tour. Das heutige Ziel heißt Corte (396 m), Standort der einzigen Universität Korsikas und Hochburg des korsischen Widerstandes gegen Frankreich und Genua im 18. Jahrhundert. Wir finden die angepeilte Gite d’etape und müssen zum Erreichen derselbigen die allerletzten 30 Höhenmeter des Tages steil nach oben schiebend erklimmen.
Dann ist die Königsetappe geschafft, wir haben einen Fensterblick auf die Zitadelle von Corte.
Statistik: 105 km/ 2100 hm.