"Arbeit" ohne Bodenberührung
Der Bericht über die ehemalige Fahrradfabrik
"Frischauf" in Offenbach (ffa 3/99) erinnert mich daran, daß mein bald
90jähriger Nachbar in seiner Jugend Mitglied der "Solidarität" war. "Der
Theo Sennlaub ist in den zwanziger Jahren ein toller Kunstradfahrer gewesen", hieß
es. Vielleicht gibt's da ja noch ein paar Fotos und Geschichten, Geschichte von unten, aus
der Sicht des ehemaligen Aktiven.
K
unst-Reigen-Truppe Frankfurt a. M., Sektion Bornheim,
Arbeiter-Radfahrer-Bund Solidarität". So steht es auf einer vergilbten Postkarte,
auf der die Mitglieder des Vereins für den Fotografen posieren: In akrobatischen
Stellungen, auf "Saalmaschinen" von "Frischauf". Aufgenommen im Hof
der Linnéschule in Frankfurt-Bornheim, in deren Turnhalle die Kunst-Reigen-Truppe
trainierte und wo in einem separaten Raum die wertvollen Räder untergebracht waren. Die
Rahmenrohre sauber verpackt in Stoffmanschetten, um eine Beschädigung der verchromten
Saalmaschinen zu vermeiden und sie auf Reisen zu den Auftritten zu schützen.
Blinkende Chromreflexe im Saallicht, Sprünge und Pyramiden auf dem
Rad, 15 (!) Minuten "Action" mit drei Leuten auf einer Maschine, ohne auch nur
einmal mit dem Fuß den Boden zu berühren - zirkusreife Akrobatik.
Wie kam man zur "Solidarität?" Für den Schüler der
Linnéschule entstand der Kontakt über die in der Turnhalle trainierenden Kunstfahrer.
Technik, Akrobatik und Ausdauer: Der Sport war attraktiv. Werbeaktionen auf der Hauptwache
stellten die Sportler vor großem Publikum vor, Meisterschaften auf nationaler Ebene
sorgten für Berühmtheit.
Training immer dienstags und freitags, am Wochenende dann
oft Auftritte in den Festsälen der näheren Umgebung. "Show-Einlage" würde man
heute sagen, wenn die Radkünstler im Programm eines Schützenfestes oder einer Kerb
angekündigt wurden. Die Anreise wird bezahlt vom Veranstalter, dazu Gage für den
Auftritt, und, als zusätzliche Einnahmequelle (in einer Zeit, in der Kameras noch nicht
in jedem Haushalt vorhanden waren und Erinnerungsfotos Seltenheitswert hatten), der
Verkauf der Werbe-Postkarten an die Besucher. So ließ sich das Hobby finanzieren, denn
auch die günstigen "Frischauf"-Räder mußten vom Verein bezahlt werden. Dazu
ein paar Mark Taschengeld für die Akrobaten und die (auch damals nicht ganz billigen)
Reisen zu den sportlichen Wettbewerben.
Die nächste "Frischauf"-Filiale in der Höhenstraße sorgte
für Reparatur und Pflege der Räder. Dort ließ man sich auch ein Straßenrad anpassen,
mit extra kleinem Rahmen für den kurzen, leichtgewichtigen Akrobaten (der aber durchaus
in der Lage war, während der Vorführung 3,5 Zentner auf seinen Schultern zu tragen).
Damit konnten an den freien Wochenenden Touren zur Verwandtschaft nach Heidelberg oder
Wetzlar unternommen werden.
Überhaupt das Reisen: In einer Zeit, als die billige
Flugpauschalreise noch nicht erfunden war und der Begriff Autobahn noch nicht zum
deutschen Wortschatz gehörte, boten Vereine wie die "Solidarität" die
Möglichkeit, mal über die Grenzen der Heimatstadt hinauszukommen. Dabei führten die
"Show"-Auftritte und das Tingeln über die Dörfer nur in die nähere Umgebung.
Weiter weg kamen die Akrobaten der Kunst-Reigen-Truppe vor allem als Sportler. Regionale
Wettbewerbe und nationale Meisterschaften (mit Schiedsrichterloge und Punktesystem
ähnlich dem Eiskunstlauf) brachten den Bornheimern große Erfolge. Bezirksmeister,
Gaumeister, Gau-Bundmeister, Bundesmeister - Endausscheidung in Berlin - man kam herum im
Deutschen Reich. Wettbewerbe in Halle, in Leipzig, in Nürnberg - für Menschen, die
ansonsten bestenfalls zu Familienfesten, zur Verwandschaft reisen konnten, bot sich über
die Mitarbeit im Sportverein, in einer großen Organisation wie der Solidarität, eine
attraktive Möglichkeit, die (nationale) Welt kennenzulernen (Berlin! Da gab's schon
Rolltreppen! Welcher Frankfurter hatte so etwas schon mal gesehen?!). Und durch die
Arbeiterolympiade 1931 in Wien kam man sogar ins Ausland. Aber da ging es nur noch
halbherzig hin, das Berufsleben wurde wichtiger, man brauchte Geld, man sparte für neue
Ziele, große Träume: endlich auch zu den (wenigen) Bornheimer Motorradbesitzern zu
gehören.
(ps)
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