Korsika – Gebirge im Meer
Aus meinem Tourtagebuch, 3. und letzter Teil
14. Mai 2001
(Aleria – Ponte Leccia)
Das Hoch über Korsika bleibt uns treu und so sehen wir erneut einem sonnigen Tag entgegen.
Unsere für die letzten beiden Nächte gewählte Übernachtungsalternative "chambre d’hote" hat den angenehmen Nebeneffekt, dass die allmorgendliche Suche nach Essbarem entfällt und uns ein im Gegensatz zu Hotels recht gut gedeckter Frühstückstisch erwartet. Das opulente Abendmahl liegt schon eine ganze Nacht zurück, somit ist genug Zeit vergangen, dass sich wieder ein gewisser Freiraum in der Magengegend hat bilden können, der nun selbstverständlich nach Füllung verlangt. Da jedoch der gestrige Ruhetag seine beabsichtigte Wirkung erzielt hat, und die Lust aufs Weiterfahren wie von selbst zurückgekehrt ist, würde sich ein zu voller Magen eher abträglich auf unsere Aktivitäten auswirken und daher kommen wir der Nahrungsmittelaufnahme lediglich in Maßen nach. Dafür fällt jedoch auch noch ein Verpflegungssnack für unterwegs mit ab.
Gegen 9:00 Uhr brechen wir auf und folgen zunächst landeinwärts einer an diesem Morgen noch kaum befahrenen Nationalstraße. Nach knapp 10 km verlassen wir das Tal und biegen auf einer Nebenstraße in die Berge ab. Und da ist er wieder, der (Fahr-)Genuss: stetig leicht bergan, auf einer kleinen Straße, die wir fast für uns allein haben, gesäumt von Esskastanienbäumen, umgeben von verschiedensten Gerüchen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Weihrauchmischungen aufweisen. So berauscht geht’s höher und höher, bis ich nach einer Kurve durch den Anblick eines direkt am Wegesrand stehenden Jungbullen recht unsanft in die Realität zurück befördert werde. Plötzlich werde ich mir der Situation bewusst, völlig alleine diesem erneuten Zusammentreffen mit der korsischen wilden Tierwelt ausgesetzt zu sein. Mein in Sachen Fauna und Flora bewanderter Bruder hat schon vor längerer Zeit einen gewissen Abstand zu mir herausgefahren, sodass ich auf seine Tipps und Tricks nun nicht mehr zählen kann. Was sich aus vorherigen, ähnlich gelagerten, Fällen bewährt hat, ist – erst mal anzuhalten. Dann zu schauen, ob aus den Bewegungen und Gesten des Gegenübers abzuleiten ist, wie sein nächster Zug aussehen könnte. Das gelingt mir nur ungenügend, weil ich nicht den Eindruck habe, dass der Jungbulle seinerseits sich gerade mit ähnlichen strategischen Überlegungen beschäftigt. Es kommt mir eher so vor, als ob er aus einem ihm innewohnenden Überlegenheitsgefühl heraus sich ziemlich desinteressiert mir gegenüber verhält. Aber vielleicht ist das ja gerade seine listige Taktik, um mich in Sicherheit zu wiegen. Ja, ich habe ihn durchschaut und bewege mich daher ebenfalls kein Stück, sondern erwidere sein mittlerweile permanentes Mich-anstarren. Die Sekunden vergehen qualvoll langsam, ohne dass sich etwas grundlegendes an dem Verhalten der Protagonisten ändert. Dafür rasen meine Gedanken wie wild zwischen den potenziellen Alternativen hin und her. Ist ein von lautem Getöse begleitetes Nachvornepreschen angebracht? Schiebend oder fahrend? Vielleicht doch eher ein geordneter Rückzug? Oder den Psychokrieg weiter fortführen? In diesem Moment macht der Jungbulle einen Schritt nach vorne.
Adrenalin schießt durch meinen Körper und alle dem schnellen Fortkommen dienenden Muskeln sind in höchster Alarmbereitschaft. Er scharrt mit dem Hufe hinten rechts. Oder war es das linke vordere? Die Erinnerungen an diese Details verblassen angesichts der darauffolgenden dramatischen Verschärfung der Situation: Er kommt einen weiteren Schritt auf mich zu, und noch einen, beschleunigt, und – biegt ab, nimmt Anlauf, um sich die Erhebung seitlich der Straße hinauf zu wuchten. Und weg ist er. Etwas entgeistert schaue ich zu der Stelle, wo der mittlerweile nur noch imaginäre Jungbulle zuletzt leibhaftig gesehen wurde, schnaufe durch, will mich in Bewegung setzen, und glaube mich urplötzlich in den falschen Film versetzt: vor meinen Augen hat sich ein zweiter Jungbulle materialisiert! Ich erspare mir jedoch die Schilderung des nun folgenden Deja-vu-Erlebnisses, welches in seiner Abfolge einer ziemlich ähnlichen Choreographie folgte, wie zuvor berichtet.
Froh, endlich den Anstieg fortsetzen zu können, trete ich etwas kräftiger in die Pedale, und kurz nachdem ich die 700 m Höhenlinie überquert habe, treffe ich wieder auf meinen Bruder. Die Straßen werden immer winziger, die Gegend abgelegener, tief unten im Tal sehen wir die Nationalstraße verlaufen, die sich dem gleichen Ziel entgegenschlängelt, dass auch uns vorschwebt, nämlich dem erneuten Besuch der Stadt Corte. Bis dahin ist jedoch noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Die nächsten 3 Stunden fahren wir immer auf der Höhe zwischen 600 m und 750 m, mit wunderschönen Ausblicken auf die schneebedeckten Berggipfel im Landesinneren. Wir sind fast unter uns, nur ca. alle 20 Minuten erscheint ein Kraftfahrzeug. Der einzige kleine Nachteil dieser einsamen Gegend: es läuft allerhand "Vieh uff de Gass". Hunde, Katzen, Schweine, Ziegen, Kühe und hin und wieder halt auch Stiere. Da wir diesmal jedoch ein gemeinsames Radeln praktizieren, räumen viele freiwillig die Straße, einige rühren sich allerdings anscheinend ziemlich gelangweilt nicht vom Fleck und checken uns nur mal kurz ab. Wir passieren kleine Dörfchen, die ziemlich ausgestorben wirken, und finden immer neue Abzweige, die uns später dann noch mal auf ca. 950 m hinaufführen, bevor es wieder hinunter ins Tal geht. Dieses kostet einiges an Bremsgummi und erfordert übermäßiges Beanspruchen der Unterarmmuskulatur zwecks Bremsgriffbetätigung, da die Strecke oft recht steil auf buckelpistenartigen Straßenverhältnissen abwärts verläuft. Gegen 14:00 Uhr treffen wir wieder in Corte (396 m) ein, die Sonne brennt für unser Empfinden schon ziemlich heiß herunter und ich frage mich, was hier wohl erst für Temperaturen im Juli vorzufinden sein müssen. Wir machen uns gleich auf den Weg ins Tal der Restonica, welches auf unserem ersten Zwischenstopp vor 4 Tagen leider wegen Reparaturmaßnahmen gesperrt worden war. Zu unserem großen Bedauern hat sich an diesem Zustand nichts geändert und so setzen wir unsere Fahrt nach einer spät angesetzten Mittagspause ins etwa 20 Km entfernte Ponte Leccia (193 m) fort. Ein kleiner Ort, nur 2 Hotels sind dort angegeben, und beim ersten erhalten wir schon das "Besetztzeichen". Es werden uns jedoch 2 Schlafplätze in einem Wohnwagen angeboten, der hinter dem Haus im Garten steht. Da wir müde sind und dies als eine interessante Alternative ansehen, nehmen wir an. Danach kurz ins Örtchen und ein spontanes Essen zusammengestellt, welches aufgrund mangelnder Einkaufsalternativen recht bescheiden ausfiel, selbst nach unseren eigenen, ziemlich niedrig angesetzten Maßstäben: Baguette, Butter, Salz, Kekse und Chips, aber wenigstens mit einer Flasche Rotwein aufgewertet.
Das muss für heute halt mal ausreichen.
Statistik: 100 km/1640 hm
15. Mai 2001 (Ponte Leccia – Col de Prato)
Als ich mitten in der Nacht aufwache, realisiere ich recht schnell, dass der Grund dafür die aufgekommene Kälte ist, die durch jede Ritze des Wohnwagens und durch die viel zu zahlreich weit aufgerissenen Fenster (um den angestauten Mief zu vertreiben) dringt. Da ein absoluter Notstand in Sachen Decken besteht, legen wir die einzig wärmeren Kleidungsgegenstände, Jeans und Sweatshirts, an und finden so noch ein paar Stunden Schlaf, bis es um 7:00 Uhr schon zu hell ist, um weiter schlummern zu können. Kurz darauf erscheint die Sonne über dem angrenzenden Berg, und die Luft erwärmt sich spürbar. Ein Ziel für heute ist die Erkundung der Schlucht "Gorges de l’Asco", und zwar hin und auch wieder zurück, da es sich um eine "Sackgasse" handelt, deren Ende immerhin knapp 1400 m hoch gelegen ist. Ob wir es bis dahin versuchen werden, wissen wir noch nicht, fahren jedoch erst mal los und erreichen nach ca. 20 km den Ort Asco (589 m). Es ist mittlerweile wieder ein warmer, sonniger Tag geworden, die Berge im Hintergrund lachen uns an und irgendwie sind wir neugierig, wie sich denn das Tal wohl weiterentwickeln wird, also entscheiden wir uns, den Anstieg noch ein wenig fortzusetzen. Und wie das so ist, je kürzer die Distanz zum Ende des Tals wird, desto größer wird unser Ehrgeiz, dieses auch erreichen zu wollen. Dafür müssen wir auch die letzten 5 km mit durchschnittlich etwa 9% Steigung in Kauf nehmen, aber es lohnt sich. Ein grandioser Panoramablick erwartet uns, auch auf den höchsten Berg Korsikas, den Mont Cinto (2706 m). Kleine Mittagspause. Dann die rasante Abfahrt zurück nach Ponte Leccia, mit den höchsten für diese Reise gemessenen Stundenkilometern. Eine zweite Mittagspause bis 15:00 Uhr folgt, weil wir erneut die Öffnungszeiten des Supermarktes verpasst haben. Eindeckung mit dem gewohnten Notwendigen. Da es noch früh am Tag ist, brechen wir wieder auf, um noch eine Gegend weiter zu kommen. Dazu geht es gleich wieder auf der anderen Seite von Ponte Leccia in die Berge hoch, vorbei an dem kleinen Dorf Morosaglia, in dem im Jahre 1725 der Unabhängigkeitskämpfer Pasquale Paoli geboren wurde.
Auf dem Col de Prato (985m) entdecken wir ein kleines Hotel und begrüßen es sehr, dort spontan eine Unterkunftsmöglichkeit vorzufinden, nicht nur, weil die Kräfte langsam schwinden, sondern auch, weil es mit der umgebenden Bergwelt einfach viel idyllischer gelegen ist, als z.B. unser Schlafplatz in der Nacht zuvor.
Statistik: 88 km/2050 hm
17. Mai 2001
(Vescovato – Bastia)
Da ist er also, unser letzter Fahrtag. Der Himmel ist fast wolkenlos, als wir gegen 9:15 Uhr bei angenehmen 21°C Vescovato (50 m), in dem wir eine empfehlenswerte Bed & Breakfast-Unterkunft gefunden hatten, verlassen. Nur kurz müssen wir einer Nationalstraße folgen, bis uns ein letzter traumhafter Anstieg über ca. 17 km auf den 885 m hohen Col de Bigorno führt. Gleichmäßig geht es nach oben, durch eine karge Berggegend, fast ungestört und mit herrlichem Blick zurück ins Tal und auf die schneebedeckten Gipfel der Mont Cinto Region. Die darauffolgende Abfahrt führt über Murato nach Oletta (213 m), von wo aus wir noch mal einen schönen Rundblick über den Golf von St. Florent, die beginnende Westküste und auf das im Norden gelegene Cap Corse werfen können, bevor wir über den wirklich letzten kleinen Col dieser Tour, den Col de Teghime (536 m), zurück nach Bastia gelangen. Dort erhalten wir im Verkehrsbüro die Adresse eines ebenfalls zu empfehlenden Chambre d’hote, welches durch seine Hanglage hervorragend positioniert ist für einen letzten Abend: und so genießen wir unser allerletztes traditionelles Mahl auf dem Balkon sitzend mit Blick über das in der Abendsonne versinkende Bastia und seinen Häfen.
Statistik: 76 km/1500 hm (cm)