Der Autor vor dem Nachbau eines römischen Weinschiffs in Neumagen
Paul Tiedemann
Sei mir gegrüßt, mein Fluss
Sei mir gegrüßt, mein Fluss,
durch Felder und Siedler gepriesen,
dem ja, des Thrones gewürdigt die Belger
die Mauern verdanken
Fluss, auf den Rebgeländen bepflanzt
mit dem würzigen Weine
und an den grasigen Ufern bepflanzt,
du grünster der Flüsse!
1. Tag (30. Juni 2020)
Solch begeisterte Hexameter ausstoßend, begrüßt der gallorömische Autor Decimus Magnus Ausonius (310 bis 394) in seinem Gedicht Mosella den ersten Anblick der Mosel, die er von Bingen aus über den Hunsrück kommend bei Neumagen erstmals erblickte. Ich gehe die Sache etwas systematischer an und fahre zunächst mit einem ICE 4 (mit Fahrradabteil) von Frankfurt nach Freiburg. Zum Glück habe ich einen niedrigen Haken zugeteilt bekommen, an den ich mein schweres Pedelec problemlos anhängen kann. Von Freiburg geht es auf Radwegen und kaum befahrenen Nebenstraßen strikt nach Westen bis Fessenheim, wo just an diesem Tag der zweite Atommeiler abgeschaltet wird. Dann auf etwas lebhafter befahrener Straße bis Ensisheim und ab da wieder auf schönen Radwegen über Cernay nach Thann im Elsass, am Fuße der Vogesen. (71 km)
2. Tag (1. Juli 2020)
Ich verlasse Thann auf einem sanft ansteigenden schönen Radweg, der bis Husseren-Wesserling führt und dort auf die sehr stark befahrene N 66 mündet. Bis Urbès nimmt die Steigung langsam zu, um am Ortsausgang heftig zu werden. In Serpentinen geht es hinauf auf den Col de Bussang (731�m NN). Hinter der Passhöhe rechts ab und schon stehe ich an der Source de la Moselle, die hier als winziges Rinnsal aus der umfassten Quelle kommt. Nun geht es auf einer nahezu verkehrsfreien Straße steil bergab nach Bussang und von dort auf einer früheren Bahntrasse sanft absteigend fast 30�km bergab, ohne dass man wesentlich in die Pedale treten muss. Ab Remiremont folgt allerdings wieder auf eine kürzere Steigung die nächste, bis ich endlich in Épinal einradle (91�km). Hier gibt es wie schon in Thann eine sehenswerte Basilika und eine romantische Burgruine, vor allem aber ein gutes Abendessen. (121 km)
3. Tag (2. Juli 2020)
Hier überquerten die Amerikaner die
Paul Tiedemann
Ab Épinal gibt es bis zur Mündung keine Steigungen mehr. Der Weg führt vielmehr auf ausgebauten Radwegen sanft bergab immer zwischen der wild verkurvten Mosel und dem geradlinigen parallel verlaufenden Canal des Vosges. Nach Méréville verlasse ich die Mosel Richtung Osten, um nach Nancy zu kommen. Die Mosel umschreibt hier im Abstand von etwa 25 km einen Halbkreis um Nancy. Nach 88 km erreiche ich die Place Stanislas, die man mit Recht zu den schönsten Plätzen Europas zählen darf. Eindrucksvoll auch der frühere Palast der Herzöge von Lothringen und die schöne Porte de la Craffe. Ich entscheide mich trotz allem, hier nicht zu übernachten, weil Hotels in Stadtzentren meist sehr laut sind. Also gebe ich in dem Navi als neuen Zielort Toul ein und lasse mich allein vom Navi führen, weil ich für diese Strecke keine Karte habe. Es geht strikt nach Westen aus der Stadt heraus und schon bald auf unbefestigte mit Geröll übersäte Waldwege, die auf 200�Meter ansteigen und zum Teil so steil sind, dass mir auch die Motorunterstützung nichts hilft, weil die Reifen durchdrehen. Da hilft nur Schieben. Als die Höhe endlich erreicht ist, geht es auf ebensolchen Wegen wieder bergab, aber zum Glück nur mit mäßigem Gefälle. Dadurch wird die Abfahrt wesentlich länger als der Aufstieg. Als ich endlich gegen 18 Uhr in Toul bin und beim dritten Versuch auch ein Hotel gefunden habe, kann ich meine Beine kaum noch heben. Mit Mühe schleppe ich mich ins Restaurant gegenüber. Erst am nächsten Morgen besuche ich die Kathedrale. (122 km)
4. Tag (3. Juli)
Heute geht es völlig eben und entspannt von Toul, das etwa in der Mitte der Moselschleife liegt, den Strom abwärts nach Frouard und von dort ebenso bequem weiter nach Metz. Der Lauf der Mosel ist hier kaum zu überblicken, denn er ist eingebettet in unzählige Altarme, Nebenarme und weiherartige Gewässer. Der Radweg immer mitten durch, so dass man links und rechts von Wasser umgeben ist. Bei Jouy-aux-Arches taucht plötzlich das gewaltige Stück einer römischen Wasserleitung auf. Das Aquädukt hat einstmals die Stadt Dividorum Mediomatricorum (Die "Göttliche des Keltenstamms der Mediomatriker", kurz: Metz) mit Wasser versorgt. Nach 92�km erreiche ich Metz und quartiere mich direkt gegenüber der Kathedrale ein. Lange sitze ich in der Kirche, die nur aus Fenstern zu bestehen scheint, Gotik vom Feinsten. (92 km)
5. Tag (4. Juli)
Von Metz geht es auf dem nach Charles le Téméraire (Karl dem Kühnen) genannten Radweg, der bis nach Brügge führt, über Thionville, vorbei an den rauchenden Kühltürmen des Atomkraftwerks Cattenom in Richtung deutsche Grenze. Am Wegesrand treffe ich zum wiederholten Male auf ein kleines Denkmal, das an die Befreiung durch die Amerikaner erinnert, die u.a. auch hier 1944 die Mosel überquerten. Seltsam eigentlich, dass es in Frankfurt, soweit ich weiß, kein ähnliches Denkmal gibt. Sind wir nicht auch durch die Amerikaner von der Geißel des Nazismus befreit worden? Am 29. März 2025 wird das 80 Jahre her sein; ein guter Anlass, ein solches Denkmal zu errichten, denke ich bei einer kurzen Rast. Um ca. 14 Uhr erreiche ich Perl, den ersten Ort hinter der Grenze. Ich mache mich frisch und wandere über die Moselbrücke nach Schengen, um dort das kleine Europamuseum ausgiebig zu studieren, in dem vor allem das Schengener Abkommen von 1985 mit seiner Vorgeschichte und seiner historischen Bedeutung thematisiert wird. (65 km)
6. Tag (5. Juli)
Heute steht nur eine kurze Strecke an. Es geht nach Trier (60 km). Auf dem Weg dahin besuche ich das äußerst sehenswerte große Mosaik einer römischen Villa, die in dem Ort Nennig ausgegraben worden ist, und die Igeler Säule, mit der zwei römisch-gallische Tuchhändler aus Trier nicht nur an ihre toten Verwandten erinnern, sondern auch gleich auffällige Straßenwerbung für ihr Geschäft betreiben wollten. Das römische Erbe von Trier, das im 4. Jahrhundert die Hauptstadt der römischen Provinzen Gallien, Hispanien und Britannien sowie Sitz eines Tetrarchen (einer von vier damals gleichzeitig herrschenden Kaisern) war, ist so reichlich und vielfältig, dass man Wochen bräuchte, um alles sehen zu können. Zum Glück hatte ich in meinem früheren Leben öfter Gelegenheit, zu Fortbildungszwecken in der Stadt zu weilen, so dass sie mir gut bekannt ist.
7. Tag (6. Juli)
Von Trier geht es über Pfalzel, wo es das wohl einzige durchgehend bis heute bewohnte Haus aus römischer Zeit nördlich der Alpen gibt, über Longuich (röm. Villa) nach Neumagen (lat. Noviomagus), wo einst Ausonius erstmals die Mosel erblickte. Hier wurde die berühmte Halbplastik eines Weinschiffs gefunden, von der eine Replik vor Ort zu sehen ist. Außerdem hat man das Weinschiff nachgebaut. An Wochenenden werden damit Rundfahrten für Touristen unternommen. Tagesziel ist Bernkastel-Kues (75 km). Ich habe mich telefonisch mit Herrn Kluth verabredet, dem Leiter des Cusanus-Geburtshauses. Er gewährt mir eine Privatführung, weil das Haus eigentlich wegen Umbaumaßnahmen und wegen Corona geschlossen ist. Ich erhalte eine 90minütige hervorragende Einführung in Leben und Werk des berühmten Humanisten Nikolaus Cusanus (1401-1464).
8. Tag (7. Juli)
Heute fahre ich ohne große Pausen direkt nach Cochem, vorbei an berühmten Weinlagen wie dem Kröver Nacktarsch oder Zeller Schwarze Katz. Cochem ist das Rüdesheim an der Mosel, Weinlokale neben Souvenirgeschäften etc. Mit der Sesselbahn fahre ich zum Pinnenkreuz und genieße die Aussicht auf Stadt und Moseltal. (82 km)
9. Tag (8. Juli)
Während das Wetter bisher nicht hätte besser sein können, erlebe ich heute Dauerregen. Die Fahrt geht auf der linken Moselseite mit leichtem Gefälle und daher sehr flott bis Hatzenport. Dort verlasse ich die Mosel und es geht gleich etwa 3 km steil bergauf nach Münstermaifeld und von dort wieder runter in ein enges Tal, in dem die Burg Eltz liegt. Während der Besichtigung der sehr sehenswerten Burg hört der Regen auf, beginnt aber sogleich wieder, als ich die Tour fortsetzen will. Um 15:00 Uhr erreiche ich die Mündung der Mosel am Deutschen Eck in Koblenz (75 km). Ausonius sagt es so:
Breite den bläulichen Schoß,
das krystallene Flutengewand du,
Rhenus, nun aus und gewähre den Raum
zuströmenden Wellen,
dass der verbrüderte Fluss dich vermehre.
Paul Tiedemann