Das Beste für die Besten
Zwischen Kult und purem Überlebenswillen:
Alles dreht sich ums Rad
Das Fahrrad – einfach, klassenlos und trotzdem (oder gerade deshalb) Kult
Foto: Peter Sauer
Rad fahren ist "Kult". In unseren Städten werden Fahrräder nicht nur bewegt, um von A nach B zu gelangen, sie sind zunehmend Ausdruck eines neuen Lebensstils. Dieser Lebensstil spiegelt sich in den ultraleichten Single-Speed-Bikes, mit denen vorwiegend junge Männer unterwegs sind, genauso wider wie in den alten Rennrädern mit ihren simplen Felgenbremsen und alltagsuntauglichen Übersetzungen, die von Stadtbewohnern beiderlei Geschlechts durch die Metropolen bewegt werden.
Aber auch Alltagsräder, die technisch auf der Höhe der Zeit sind, mit Lichtanlage und gut greifenden Bremsen ausgestattet, werden liebevoll umsorgt. Farbenfrohe Sattelüberzüge oder blumenumrankte Lenkerkörbchen zeigen, dass das Rad mehr ist als einfach nur ein Fahrzeug, zeigen, dass der Besitzer oder die Besitzerin ein inniges Verhältnis zum Velo pflegt. Selbst regnerisches Winterwetter kann der Trendwende nichts anhaben – das alte Regencape scheint von schicken Regenhosen nahezu verdrängt zu sein, elegante wasserdichte Taschen hängen am Gepäckträger oder lässig über der Schulter der urbanen Velomobilen. So weit alles in Ordnung, alles normal menschlich, möchte man meinen. Doch dieser Kult ums Rad treibt überraschende Blüten, in ganz verschiedene Richtungen.
"Radfahren ist das neue Golfen", glaubt das Magazin Focus (Focus 43/2015) entdeckt zu haben. Männer um die Vierzig steigen aufs Rad, nein, nicht auf ein einfaches Fahrrad, auf ein Rennrad steigen sie, schwingen nicht mehr den Golfschläger, sondern sich aufs Rad. In Londons Soho-Bezirk seien die Statussymbole Porsche oder Rolex längst passé. Investmentbanker und Ärzte diskutierten heute darüber, wie man mehr Druck aufs (Renn-) Pedal bekommt, welche Sitzposition ideal ist oder in welcher Zeit man das Stilfser Joch oder den Mont Ventoux bezwingt. Dass man sich in diesem Umfeld nicht lumpen lässt, versteht sich von selbst. High-Tech-Boliden, deren Preise jenseits der 10.000 Euro-Marke liegen, werden angeboten und gekauft. "Cyclen" ist der neue Trend in der City, und die Radindustrie reibt sich, zusammen mit den Herstellern von Radbekleidung und Zubehör, die Augen vor Verwunderung und legt nach.
Ein bayerischer Hersteller von Rennrädern wirbt in seiner Pressemitteilung damit, dass der Ex-Boxchampion und aktuelle Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko sich gemeinsam mit seinem Bruder Wladimir, dem weiterhin praktizierenden Boxer, von einem Rahmenbauer vermessen ließ. Ihre maßgefertigten Räder haben die beiden in Bayern abgeholt, zu welchem Preis ist nicht bekannt. Da nicht-maßgefertigte Carbon-Räder, je nach Ausstattung, bei den Bayern ab rund 4.000 Euro angeboten werden, werden die Klitschko-Renner deutlich darüber liegen. Aber, lässt der Hersteller wissen, "... so Klitschko augenzwinkernd: ,Die Besten brauchen auch das beste Material�..."
Auf einer Fahrradreise durch die Pyrenäen, mit Material, das einige Preisklassen vom "besten" entfernt ist (uns aber trotzdem mit schwerem Gepäck über die französischen Landstraßen trägt), treffen wir auf einen US-Amerikaner. Auf den Spuren der Tour de France unterwegs, transportiert er sein Radl, mit dem er interessante Streckenabschnitte des Traditionsrennens selbst er-fahren will, im Leihwagen eines deutschen Oberklasse-Herstellers. Der Endvierziger aus Kalifornien ist begeisterter Radsportler, sein federleichtes Carbonrad kann ich mit einer Hand mühelos anheben. Wir kommen ins Gespräch, es geht um die Schwierigkeiten, ein Rad im Flugzeug zu transportieren. Warum er sich nicht in Paris ein gutes Rennrad geliehen habe, so wie er dies auch mit dem noblen Auto getan habe? Weil, kommt die Antwort offen und ehrlich, er sich nicht solch ein teures Velo in Kalifornien anschaffe, um die schönsten Strecken der Tour de France auf dem Sattel eines Leihrades zu erleben.
Trotz seines Hangs zur Oberklasse auf zwei und auf vier Rädern sprüht der Kalifornier vor Begeisterung auch über unsere Art des Reisens. Mit diesem Gepäck über die Berge ... das muss er seinen Radkumpels daheim erzählen. Umgehend macht die amerikanische Gattin ein Foto: Ein US-amerikanisches Leichtgewicht zwischen zwei deutschen Schwergewichten. Noch bevor wir uns trennen wird das Bild an die amerikanische Westküste geschickt, um den dortigen (Rad-) Sportsmännern Unvorstellbares zu zeigen.
Unvorstellbar für uns ist etwas anderes. Wenige Tage nach dem Treffen mit dem Kalifornier stellen wir unsere bepackten Reiseräder in einer Hotelgarage ab, neben zwei Rennrädern der gehobenen Preisklasse. Beim Abendessen im Restaurant spekulieren wir darüber, wer diese Renner wohl fahren könnte. Neben ein paar englischen und französischen Touristen sitzen auch zwei Amerikaner im Lokal, doch keine der anwesenden Personen kommt für uns als Radsportler in Frage. Die Amis schon gar nicht, die saßen kurz vor dem Essen noch mit Dosenbier und Brot und Wurst auf dem Balkon und greifen trotzdem beim Menü und Rotwein ordentlich zu. Am nächsten Morgen dann folgt die Überraschung – genau die beiden US-Bürger, beide weit entfernt von sportlichem Auftreten, schieben die teuren Velos über den Hof. Sind die beiden damit wirklich über einen der Pyrenäenpässe gefahren? Wer weiß – auf jeden Fall ist Radfahren auch hier Kult. Anders vielleicht als bei den beiden Schweden, sportlichen jungen Männern in Renntrikots, die auf uralten Militärrädern "... die wiegen 23 Kilo"... auf dem Jakobsweg über die Berge pilgern. Kult kennt keine Grenzen.
Doch es gibt auch eine andere Seite der velomobilen Gesellschaft. In der wird das Rad auch Kult, aus purer Notwendigkeit. Flüchtlinge fahren Rad, in der Hoffnung auf ein weniger lebensgefährliches Leben als bisher. Ihre Räder sind nicht vergleichbar mit den sündhaft teuren Rennern der Ex-Golfer, ganz im Gegenteil sind sie schlicht und wenig verkehrssicher, aber trotzdem überteuert. Hoch im Norden Europas, an der Grenze Russlands zu Norwegen, wird Rad gefahren. "Migrants are Reaching Europe, via Arctic Circle, on Bicycle". Die New York Times International Weekly, die der Süddeutschen Zeitung am 16.10.2015 beigelegt ist, berichtet über Flüchtlinge, die die Grenze ins ersehnte Norwegen per Fahrrad überwinden. Zumeist in Russland bereits geduldete Syrer erhoffen sich von der Reise am Polarkreis eine bessere Zukunft im reichen Skandinavien. Diese Route schien kurzzeitig so attraktiv zu sein, dass sogar syrische Flüchtlinge im Libanon versuchten, Visa für Russland zu erhalten, in der Hoffnung auf eine Weiterreise zum polaren Außenposten Europas.
Die russischen Behörden hatten jedoch bei der Eröffnung des Grenzübergangs im Jahr 2003 mit den Norwegern vereinbart, dass dieser nicht für Fußgänger passierbar sein solle (taz vom 5.11.2015). Zusätzlich wurde nun russischen Autofahrern untersagt, Flüchtlinge im Wagen zu befördern. Das wiederum rief andere Russen auf den Plan, findige Fahrradhändler. Denn auf zwei Rädern durfte die Grenze weiterhin überquert werden. So kam es, dass hunderte von Syrern mit einfachen, überteuerten Schrott-Rädern nach Norwegen fuhren. Dort war dann allerdings Schluss mit dem Radtourismus. Die russischen Velos wurden allesamt als verkehrsuntauglich eingeschätzt und von den Behörden eingezogen und entsorgt. Inzwischen scheint diese Art Rad-Kult aber vorbei zu sein. Russland fängt die Flüchtenden bereits weit vor der Grenze ab, und Norwegen lässt weniger Flüchtlinge ins Land. Dass der Winter das Problem von selbst regelt, wie von den norwegischen Behörden erhofft, ist bislang nicht zu erwarten. "Ich brauche keine Sonne, ich brauche ein normales Leben", wird ein junger Afghane zitiert. Wer auf der Flucht vor Elend und Todesgefahr ist, den kann auch eine kurze Radfahrt durch den Polarwinter nicht schrecken.
Das Fahrrad, ein einfaches, klassenloses Gefährt? Ganz im Gegenteil � nicht anders als in der automobilen Welt wird auch hier das Fahrzeug zum Ausdruck der eigenen Lebensweise, der Stellung in der Gesellschaft, bietet Raum für Spinnereien, Angebereien, Selbstdarstellung und Trends. Und, wie im normalen Leben bisher auch, gibt es die andere Seite, auf der schlicht pure Not zu Einfachst-Fahrrädern greifen lässt. Die Spanne zwischen "das Beste für die Besten" und "Schrotträder für Flüchtlinge" ist enorm, doch beides gehört auch weiterhin zum Fahrrad, einem doch eigentlich (siehe oben) recht einfachen, klassenlosen Fortbewegungsmittel.
Der Weg in eine bessere Welt wäre für mich schon beschritten, wenn nur einer der Rolex tragenden Londoner Banker seinen Porsche wirklich abmelden würde, um zukünftig stattdessen mit dem Edel-Carbon-Bike durch die "City" zu cruisen.
Peter Sauer