Zwei Querfahrten
links: Kultur am Himmelscheibenweg
rechts: Fluchtweg am Himmelsscheibenweg
Foto: Günther Gräning
Prolog:
Die berühmte Himmelsscheibe von Nebra ist UNESCO-Welterbe und liegt in Halle. Der Himmelsscheiben-Radfernweg vom Fundort Nebra nach Halle durchquert eine Stadt namens Querfurt – ja, die gibt es wirklich! Und von Querfurt nach Merseburg führt eine ca. 40&xnbsp;km lange Sticheisenbahn, quer von West nach Ost. Wer aus Querfurt per Zug in die Welt will, kommt an Merseburg nicht vorbei. Diese Strecke hat es in sich, wie man gleich lesen wird, und das nicht nur wegen des nahen Weinbaus!
Ich will also kürzlich samt Fahrrad per Zug von Merseburg nach Querfurt. Was ich dabei erlebe, ruft die Erinnerung an ein älteres Erlebnis wach, das ich auch nicht geglaubt hätte, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte.
Zunächst die ältere Geschichte:
Vor ein paar Jahren wollten wir nach einer Radtour zu zweit mit zwei Rädern von Querfurt per Zug nach Kiel fahren. Man musste ein Start-Ticket zum Nahziel kaufen, das man angerechnet bekam, wenn man später die endgültige Fahrkarte zum Fernziel kaufte. Die Situation wurde dadurch verschärft, dass wir verschiedene Bahn-Cards (25 % und 50 %) hatten, vor allem aber durch zwei defekte Automaten am Bahnhof und im Zug.
Es erschien eine junge Schaffnerin mit tragbarem Fahrkartendruckgerät, der wir unsere Lage und Wünsche schilderten. Sie sagte, sie sei aus Leipzig ausgeliehen und kenne sich hier nicht aus. Wir auch nicht, sagten wir, obwohl wir nicht ausgeliehen seien. Ihr Ehrgeiz bestand ab nun darin, ihrem umgehängten Fahrkartendruckgerät etwas zu entlocken, das auch außerhalb Großsachsens (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen) Anerkennung finden würde. Sie druckte zwischen den Haltestationen vier- oder fünfmal, verwarf das Gedruckte wieder und entsorgte es sofort im Papierkorb. Wir waren offenbar die einzigen Fahrgäste, so konnte sie sich uns voll widmen. Nach einer dreiviertel Stunde waren wir schon im Bahnhof von Merseburg und konnten endlich die Fahrkarten in Empfang nehmen und bezahlen. Später stellte sich heraus, dass die Fahrkarten richtig waren, dass ich aber für mein Fahrrad zuviel bezahlt hatte, aber das war uns der Spaß wert.
Jetzt die aktuelle Geschichte:
Ich will per Zug samt Fahrrad von Merseburg nach Querfurt, quer von Ost nach West. Oh, sagt die Dame am Schalter des Merseburger Bahnhofs, ab Mücheln sei Ersatzverkehr mit Bus, sie wisse nicht, ob der Bus Räder mitnimmt und will mir nur eine Fahrkarte bis Mücheln verkaufen. Wo bitte ist Mücheln? Mir schwant Böses, aber was soll's – ich zahle 2,15 € für ein großes DIN-A4-Ticket. Räder sind hier kostenlos, und ich habe eine 50 %-Bahn-Card. Der Wagen ist ziemlich voll, der Fahrer grüßt vor der Abfahrt hoheitsvoll in alle Richtungen wie seinerzeit der Lokführer der "Adler". Der Schaffnerin im Zug erkläre ich mein Anliegen, bis Querfurt fahren zu wollen. Kein Problem, sagt sie, sie werde den Busfahrer anweisen, das Rad mitzunehmen. Den Fahrschein nach Querfurt werde sie mir mit ihrem umgehängten Fahrkartendruckgerät in Mücheln ausstellen, weil des Busfahrers busstationäres Fahrkartendruckgerät mit Bahn-Cards erfahrungsgemäß nichts anzufangen wisse.
Es wäre jetzt alles gut, säße nicht auf dem Klappsitz neben mir ein farbiger junger Mann. Die Schaffnerin will seinen Ausweis sehen, der ihn als Eigentümer der Sammelkarte (vier weitere Farbige fuhren auch mit) ausweisen solle. Er antwortet auf Französisch mit afrikanischem Akzent, verweist mehrfach auf eine weitere Person, deren Name auf dem Sammelschein stehe, die er per Handy anrufen könne, die in Merseburg zurückgeblieben sei und die per Taxi hinterherfahren könnte, etc., etc. Die Schaffnerin guckt wie ihr Triebwagen – vollkommen rat- und verständnislos. Sie spricht eben nur mitteldeutsch. Er guckt genauso zurück. So geht das einige Minuten lang. Ich halte das nicht aus und erinnere mich an mein Schulfranzösisch, aufgefrischt durch ein paar Frankreich-Aufenthalte. Wenn er seinen Ausweis nicht zeigen könne oder wolle, dann möge er doch den normalen Fahrpreis bezahlen, das sei billiger als die Taxitour, außerdem müssten sonst alle fünf je 40 € Strafe zahlen. Das muss ich mehrfach wiederholen, ich rede dabei auf ihn ein wie auf einen kranken Gaul. Er ist zunächst störrisch, aber bezahlt schließlich doch. Die Schaffnerin strahlt und lobt mein Französisch vor allen Fahrgästen inbrünstig.
Dem Busfahrer in Mücheln erzählte sie von meiner französischen Wundertat: Sie habe ihr Geld bekommen (... und ihre Autorität gewahrt, und alle Welt weiß nun, dass man in mitteldeutschen Triebwagen durchaus Französisch spricht). Die restliche Fahrt per Bus nach Querfurt brauche ich nicht zu bezahlen. Ich bin der einzige Fahrgast, der bis dorthin will. Und was will ich da? Schnell per Rad wieder weg, auf dem Himmelsscheiben-Radweg. (Was wird wohl geschehen, wenn ich zum dritten Mal hier mit dem Zug fahre?)
Epilog:
Das Auto-Kennzeichen von Querfurt lautet "QFT"; wer eines erblicken sollte, gebe dem Fahrer bitte in meinem Namen einen aus – möglichst Hochprozentiges.
Günther Gräning