Chesa Cumünela (Rathaus) in Sils Maria
Foto: Andrea Maier-Pazoutova
Sehnsucht nach dem Junischnee
Biketouren im Engadin
Anfang Juni 2013: in Deutschland Dauerregen und Hochwasser, wir entscheiden uns in die Alpen zu flüchten in der Annahme, dass im steilen Gelände keine Radwege überflutet werden. Ich will in die Schweiz, wo Mountainbiking und Alpenüberquerung nicht schon zu Massentourismus tendieren mit durchorganisierter, omnipräsenter Infrastruktur. Ich will ins Engadin, wo "unten" 1800 m ü. M. liegt und dadurch als Startpunkt unserer Radtouren günstiger für das Erklimmen der Zweieinhalbtausender ist. Ich will in das Alpenland der Superlative, näher an die Viertausender. Nur ahne ich nicht, dass der uns begleitende Regen sich hier in anderer Form präsentiert und für Radler zu einem exotischen Hindernis wird.
Die Schweiz ist für mich der Inbegriff von Qualität, Präzision, Tüchtigkeit, Exklusivität, großzügiger Natur und sagenhaften Bergkulissen, die sich grandios präsentieren. Das alles steigert sich im Engadin zur Perfektion: inmitten der Lärchenwälder glitzern grünblaue Seen auf der sonnigen Hochebene von 1800 m ü. M., umrahmt von schneebedeckten Drei- und Viertausendern unter blauem und wolkenlosem Himmel, noch eindrucksvoller als ich es mir erträumt habe.
Auch St. Moritz mit seinem Glanz und Schein, dem Dolce Vita des internationalen Jet-Sets und mondänen Flair der Edelboutiquen und palastartigen Fünfsternehotels wäre bedeutungslos ohne diese Umgebung. Erst der See und die Alpen machen den Ort zum Star. Und für uns liegt er einfach auf der Radstrecke, bietet sich als Verkehrsknotenpunkt mit Bahnhof und Seilbahnen und mit einem exklusiv sortierten und hochpreisigen Supermarkt als Lebensmittelversorgung für einen plötzlichen Hunger "on tour".
Wir haben als unser Domizil für eine Woche Sils Maria gewählt, ein Kraftort der Ruhe, traumhaft gelegen zwischen Silser und Silvaplaner See. Im Zentrum eine Handvoll schmucker Engadiner Häuser mit dicken Mauern, Erkern und trichterförmigen kleinen Fenstern. Die Bedeutung der Straßennamen, rätoromanisch beschildert, lässt sich mit ein paar Lateinkenntnissen erahnen. Eine gute Seele, die uns begeistert unzählige Tipps zu unseren Radtouren gibt, versteckt sich in "Chesa Cumünela". Die Post mit ihren gelben "Postautos" (eine Schweizer Institution), ein paar Hotels, am Rande thront unser Schweizer Hof mit seinen blühenden Bergwiesen und lockt mit einem 33 Grad warmen Solebecken. Nach der Ankunft drehen wir noch eine Rad-Runde um den See, staunen über Wasserfälle, die durch die plötzliche ungewöhnliche Hitze den Gletscherschnee mit ganzer Kraft herunterschießen lassen, über idyllische Picknickplätze am Seeufer, wo schon gehacktes Holz zum Grillen bereit liegt, über vollkommene Ruhe, die schon Nietzsche geschätzt hat.
Foto: Andrea Maier-Pazoutova ">
links: Bike + Ride mit ganz neuer Bedeutung: "Signalbahn" in St. Moritz
rechts: Auf dem Berninapass, am Lago Bianco, liegt noch Schnee
Fotos: Andrea Maier-Pazoutova
Unser Hotel trumpft mit bewährter Schweizer Qualität auf. Das Abendessen schmeckt wie ein 5-Sterne Gala-Diner, obwohl wir in einem 3-Sterne Haus sind. Dazu das Ambiente im verglasten lichtdurchfluteten Restaurant-Pavillon mit spektakulärem Blick auf die Abendsonne über den Berggipfeln, gedämpfte Stimmen der älteren Stammgäste, die mühelos zwischen Schwyzerdütsch, Französisch und Italienisch gleiten, die Leichtigkeit der Schweizer Multilingualität. Der italienische Oberkellner zeigt sich erfreut, dass ich mit ihm italienisch parliere, nach einigen Tagen entdecke ich unter den Kellnern sogar einen Slowaken.
Jeden Tag steigen die Temperaturen, der Himmel ist azurblau, die stark blendende Junisonne bringt den vor zwei Wochen gefallenen Schnee auf 2500 m Höhe schnell zum Schmelzen. Mit unserem günstigen Hotelarrangement können wir gratis Bergbahnen auf den Gletscher, Züge der Rhätischen Bahn und legendäre Schweizer Postautos, die sogar mit Fahrradträgern ausgestattet sind, nutzen. Auch das Postauto bis Chiavenna, sagt stolz die Dame an der Rezeption. Chiavenna liegt 50 km entfernt, 1500 m tiefer und übrigens in Italien, fast am Lago di Como.
Gewiss, die Schweiz hat ihren Preis, aber auch da kann man sich anpassen. Davon zeugen mehrmals Tschechen, die ich hier treffe, zwei ältere Paare kommen schon seit 13 Jahren, auch im Winter, und wohnen in der Jugendherberge in Pontresina. Ein absolutes Highlight sind neun Zelte auf dem Campingplatz in St. Moritz, daneben ein Van mit Anhänger, drinnen hängen Fahrräder und stapeln sich Lebensmittelboxen mit Allerlei, vom echten Pilsener Bier über Gnocchi zu Wurst und Schinken. Davor sitzt gemütlich ein dicker Koch (Besitzer einer Kneipe in Mähren) und hackt blitzschnell und sehr professionell Knoblauch und Zwiebeln. Es tut gut, mal wieder den tschechischen Humor zu genießen und dabei ein kühles Kozel zu trinken.
Bei unseren ersten Radtouren wagen wir uns bewusst so weit wie es uns der Schnee erlaubt, ich werde zur Expertin für Höhenlinien auf unserer übersichtlichen, sehr informativ gestalteten Radkarte von der Chesa Cumünela. Auf 2500 m ist die Schneedecke noch intakt, darunter ist es zu mühsam, durch Schneeausläufer zu schieben – in dieser Höhe kostet es in den ersten Tagen noch viel Kraft.
Auf den 3303 Meter hohen Corvatsch kann man in ein paar Minuten mit der superschnellen leisen Kabinenbahn hochgleiten. Plötzlich ist es weiß um uns, alles verschwindet im milchigen Nebel. Ich stehe lange alleine auf der Aussichtsplattform im Nichts und warte auf die Gnade der launischen Alpen, die sich so unerwartet verhüllt haben. Doch dann geht der Vorhang auf: das märchenhaft schöne Panorama taucht auf, Blick über die Dreitausender bis zum Piz Bernina, dem einzigen Viertausender der Ostalpen, der hier gleich um die Ecke thront.
Die Seen glitzern weit unten im Abendlicht. Die Strecke entlang des St. Moritzer, Silvaplaner und Silser Sees wird zu unserer Hausstrecke, der Weg schlängelt sich malerisch hoch und runter, wir radeln gegen den Nachmittagswind von Maloja, dafür aber auf weichem Untergrund der trockenen rostbraunen Lärchennadeln, die so verführerisch duften. Im Engadin beginnt der Süden, das liegt in der Luft, habe ich hier vor zwei Jahren im strömenden Regen gesagt, jetzt hat uns das Wetter mit fast tropischen Temperaturen beglückt.
Sagenhaft sonnig beginnt jeder Morgen. Ich traue dem Wetter zuerst in dieser Höhe nicht, aber es bleibt so, ich kann kurzärmlig radeln, vergessen sind Regenjacken und Co. Die Sonne blendet, verstärkt ihre Wirkung durch Reflexe im Schnee. Gleich am ersten Tag quälen wir uns durch die Schneeausläufer fast bis auf Corviglia, und zurück wird es nicht leichter. Die Via Engiadina ist so steil und steinig, ein alter hochalpiner Wanderweg, der auch als Radweg ausgewiesen ist. Das ist halt die Schweiz, hier muss man schon mit dem Mountainbike zurecht kommen, wenn man sich so weit wagt. Der Trail runter ähnelt einem Sturz, als Rettung erscheint plötzlich die Straße, selten habe ich eine Asphaltstrecke so begeistert begrüßt. Am nächsten Tag radeln wir entlang des smaragdgrünen Lej Staz nach Pontresina. Der Ort trumpft mit einem Hauch von Italianità, einem prunkvollen Schlosshotel im Jugendstil und einer unglaublich fachkundigen und netten Mitarbeiterin im hypermodernen verglasten Info-Zentrum auf. Nach der einzigen Regennacht (das Engadin wollte uns zeigen, dass es nach dem Regen noch betörender duften kann) radeln wir in das stille Fextal. Die umliegenden Berge sind noch verhüllt im Nebel, doch am Ende erwartet uns ein grandioser Blick auf das Gletschermeer bei einer einsamen Alp mit Besen, Blumenkübel und Terrasse, auf der wir unsere Jause genießen, vollkommen alleine mit der großartigen Natur. Hier endet einfach der Weg, weiter gibt es nur kleinere und größere Ströme aus Gletscherschmelzwasser, darüber eine weiße Schicht und oben Gipfel und Himmel. Über das Nachbartal Fedox, vorbei an zwei Eseln und einer Kuhherde mit wuscheligen Kälbern, radeln wir an einer imposanten Schlucht vorbei. Das Flowtrailerlebnis wird durch nichts gestört. Plötzlich ein atemberaubender Blick auf den türkisblauen Silser See mit dem Weiler Isola weit unten, es ist Samstag, aber alles ist unglaublich ruhig und einsam. Dorfhäuser, winzig wie Spielzeugteile, festgehalten in einem Augenblick, an dem die Zeit vorbeizieht.
Angesichts der in den Alpen ungewöhnlich hohen Temperaturen verlängern wir unseren Aufenthalt. Der Schnee erscheint in der tropischen Hitze vollkommen deplatziert, wie ein hartnäckiges Relikt eines längst vergangenen Winters. Jetzt dient er dazu, uns nach einem schweißtreibenden Aufstieg abzukühlen und einen optisch reizvollen Kontrast zu unseren braungebrannten Beinen mit geplagten Muskeln darzustellen.
Am Sonntag fahren wir mit der roten Rhätischen Bahn zur Alp Grüm. Das Bähnli schlängelt sich höher und höher zum Ospizio Bernina auf 2253 m. Beim Blick aus dem Fenster packt mich die Panik, der Radweg am smaragdgrünen Lago Bianco verschwindet unter weißen Flächen, stille erstarrte Winterlandschaft ohne Menschen. Dann Dunkelheit, durch viele Tunnel mit starkem Gefälle bis hinab zur Alp Grüm, rund 200 Höhenmeter tiefer. Wir steigen fassungslos aus und bewundern zuerst das grandiose Panorama mit Gletscher und weit unten gelegenem mediterranen Poschiavo. Und jetzt? Kommen wir überhaupt durch den Schnee? Wie ein Schutzengel erscheint ein Biker aus Livigno und erklärt uns, wir müssten mehrmals auf dem steilen Hang einige hundert Meter Schneefläche überqueren, aber es sei machbar. Hier haben sogar Wanderer ohne Bike Mühe, auf dem Schnee zu balancieren, sie betrachten uns ungläubig. Aber wir gelangen doch in die märchenhafte Winterszenerie oben am Lago Bianco, müssen kurz wegen Schneemassen auf die Straße am Bernina-Pass ausweichen, ein Kontrastprogramm mit heulendem Motorrad-Inferno, aber weiter unten kehren wir auf unseren Radweg zurück, der erfreulicherweise jetzt endlich schneelos und steinig ist. Wir überqueren einen überfluteten Wildbach ohne Steg, mein Mann fährt mutig durch, mein Schuh wird nass, da schiebe ich lieber mein Rad barfuss durch das eiskalte Wasser. Die Seilbahnstation Diavolezza erscheint auf unserem Weg, da gönnen wir uns ein Intermezzo und fahren gratis mit unserer Card auf den Dreitausender, obwohl wir eigentlich heute genug Schnee erlebt haben. In blendender Sonne kommen uns Skifahrer entgegen; Wintersport trifft Sommersport. Später verfahren wir uns und entscheiden uns deshalb für die Bahn, um wieder nach St. Moritz zu gelangen Die Haltestelle Surovas sieht aus wie ein Lebkuchenhaus, wir sind die einzigen Reisenden. Der alte Bahnwärter erklärt halb rätoromanisch, dass heute alles automatisiert ist. Der Perron ist glühend heiß, da trocknet mein nasser Schuh schnell. Der Zug rollt ein, "Winken!", rufe ich meinem Mann zu, "Halt auf Verlangen", und entdecke in letzter Minute den unscheinbaren Knopf auf der Info-Tafel. Auch den Märchenbahnhof hat die Technik schon erreicht. Kopflos rennt jeder zu einer anderen Waggontür mit Fahrradlogo und steigt ein, dann nur noch unsere Hausstrecke von St. Moritz nach Sils, da spüren wir schon unsere Muskeln gegen den Maloja-Wind.
Am letzten Tag, auf einem steinigen Single-Trail, stürze ich, Steine überrollen mich, aber zum Glück ist nur der kleine Finger gebrochen. Ich erlebe eine perfekte medizinische Versorgung in einem Spital, das jährlich 2000 Frakturen in seiner Statistik zählt, bin aber an einem Junitag alleine in der Ambulanz. Angesichts der Erlebnisse der letzten Tage ist die Verletzung nur eine Marginalie in dem Mosaikbild. Jeder Tag in dieser spektakulären Landschaft hat einen einzigartigen Abdruck in meinem Gedächtnis hinterlassen, Nietzsche hat es in Worte gefasst:
"Als ich Morgens ins Freie trat, fand ich den schönsten Tag vor mir, den das Oberengadin mir je gezeigt hat – durchsichtig, glühend in den Farben, alle Gegensätze, alle Mitten zwischen Eis und Süden in sich schließend."
Andrea Maier-Pazoutova