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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

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Von: ADFC Frankfurt am 5. August 2012

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Links: Die TourdeNatur glücklich am Ziel. Keiner denkt daran, daß der schwierigste Teil erst noch bevorsteht....
Rechts: Quer durch Brandenburg: Stille und weniger stille Vertreter von Ökologie-konzepten treffen aufeinander
Fotos: Tour de Natur

Auf den Spuren von Karl May:

Mit Rih und Hatatitla durchs wilde Bahnistan

Eigentlich wollte ich ein paar Takte zur diesjährigen Tour de Natur sagen, die für mich, wie schon häufiger, als das Highlight des Radler-Jahres dasteht. Für uneingeweihte Leser ist es jedoch aufschlussreicher, wie sich der Rücktransport vollzog, nachdem die Tour nach 14 Tagen am 4. August ihr Ziel in Greifswald erreicht hatte. Denn mit meinem voll aufgezäumten Rad ("Rih") und als Sherpa für ein zweites ("Hatatitla") lernte ich nicht nur die Bahn, sondern auch ihre Nutznießer von einer ganz neuen Seite kennen. Doch der Reihe nach:

Catherin aus Darmstadt hatte mir angeboten, mit ihr zusammen die Rückfahrt am Sonntag, 5.8. anzutreten. Sie hatte nämlich ein ticket für zwei, inklusive Platzreservierung und Fahrradstellplätzen für den IC 1956, der uns nonstop von Greifswald nach Frankfurt und weiter nach Darmstadt bringen sollte - also traumhaft: einfach einsteigen, um gegen 21 Uhr am Ziel wieder aussteigen. Die einzige Gegenleistung sollte sein, dass ich ihren hochgerüsteten Fahrradmustang Hatatitla ein- und auslade - eine Kleinigkeit, wie mir schien.

- Endstation Südkreuz -

Als kurz nach Greifswald eine zögerliche Durchsage mitteilte, die Wagen 5 und 7 müssten geräumt werden, wegen eines Heizungsdefekts (nanu: Heizung - im August...?), schwante mir nichts Gutes. Der Zug wurde immer langsamer, die wiederholte Ansage immer dringlicher. In Berlin-Südkreuz blieben wir verdächtig lange stehen. Und dann die Mitteilung: Fahrtende - leider. "Wir empfehlen, auszusteigen. Auf Gleis ....erreichen Sie noch den IC...der dort abfahrbereit steht..." Und schon lief mein Job auf Hochtouren: raus mit Rih und Hatatitla und ihrem ganzen Plunder; Treppe runter, Treppe rauf - und nichts wie rein in den Zug, der schon unter Dampf stand.

Da sieht man, was eine Reservierung im Ernstfall wert ist: nichts. - Gold wert waren hingegen die jungen Biker, die dort das Fahrradabteil schon mit einer Belegungsquote von 100 Prozent bevölkerten und trotzdem mit uns gemeinsam alles reinwuchteten, als würden sie dafür im Akkord bezahlt.

Zu fünft waren wir in Greifswald aufgebrochen - außer Catherin und mir noch Marcus, Stefan und René. Die drei letzteren hatten keine Reservierung. Das war mir neu. Man kommt von Fall zu Fall auch ohne in den IC, wenn die Stellplätze nicht ausgebucht sind. Da nur noch zwei Plätze frei waren, kamen Marcus und Stefan mit, René hatte Lospech. Dass das womöglich ihr Glück war, zeigte sich erst später... Also waren wir jetzt noch zu viert. Stefan entschied sich in Südkreuz für die Weiterfahrt mit einem anderen Zug nach Hamburg. So war jetzt nur noch Marcus bei uns, mit beachtlichem Sondergepäck: der Motivwagen der TdN befand sich in seiner Obhut - ein sehr sperriges Teil, gerade inbezug auf plötzliche Umsteigemanöver. Als der Hänger mit vereinten Kräften ins Abteil gehievt war und der Zug abdockte, merkte Marcus, dass er einen fatalen Hänger ganz anderer Art gehabt hatte: auf dem Bahnsteig standen noch seine eigenen Packtaschen. Verzweifelt versuchte er Stefan durch das geschlossene Fenster darauf hinzuweisen, während dieser ihm ahnungslos fröhlich zurückwinkte...

Während ich mich langsam berappelte, ging mir der ganze Ablauf noch einmal durch den Kopf:

Zum einen: Erst saßen wir eine Viertelstunde im stillgelegten IC 1956, und dann hieß es, "höchste Eisenbahn" zum Umsteigen - das sollte Zufall sein? Saß da am Ende vielleicht eine neue Generation von abgefeimten Schurken, als DB-Mitarbeiter getarnt, vor den Überwachungsterminals, und feixten: Ey, wie sie sich abrackern - und was sie erst für Augen machen werden, wenn sie merken, wo sie gelandet sind....... Die vage "Empfehlung", mit der wir aus dem Zug herauskomplimentiert worden waren, entpuppte sich als doppeldeutig: wir hätten schließlich auch in Südkreuz bleiben oder sogar im Zug sitzen bleiben können - wir hatten die freie Wahl, es war nur eine Empfehlung -
Zum anderen kursierte inzwischen das Gerücht, der IC 1956 habe tatsächlich seine Fahrt wieder fortgesetzt.

- "Piraten der Schiene" -

Marcus hatte indessen fieberhaft sein Handy bearbeitet und folgenden radikalen Entschluss gefasst: In Wittenberg steigt er aus und fährt zurück - mit dem Hänger, aber dafür ohne Fahrkarten und Geld (das befand sich alles in den Packtaschen). Wir drückten ihm die Daumen und waren jetzt nur noch zu zweit: Catherin und ich. Daneben aber die schon erwähnten "golden boys", die jetzt zur Hochform aufliefen:
Jeder hatte inzwischen eine kleine Blackbox in der einen Hand und betrillerte sie mit den Fingerkuppen der anderen Hand, um dann in einem sonst bei Quizsendungen üblichen Tempo Statements abzufeuern wie:

  • dieser Zug fährt gar nicht nach Frankfurt!
  • Nein - er fährt über Nürnberg nach München!
  • Aber - in Leipzig gibt es einen Anschluss mit dem IC XYZ, den erreichen wir locker!

Damit war die Situation entspannt; sie blieb so bis ca. 40 km vor Leipzig. Dort "entspannte" sich der Zug - er stand. Nach fünf Minuten die Durchsage, dass sich wegen "Personen auf den Schienenstrecken" die Weiterfahrt um ca. 30 Minuten verzögern würde... Bevor es mir richtig gruseln konnte (30 Minuten zum Einsammeln von...?) erscholl ein ungeheurer Jubelruf - von den golden boys. "Joouuh - genau das hat jetzt gefehlt!" Und wie wild betrillerten sie ihre Displays, und der Oberguru der Blackboxxer verkündete unheilvoll: wenn wir diesen Zug in Leipzig verpassen - der nächste fährt erst nach 22 Uhr. Es war klar, was geschehen musste - einer der Jünger des Obergurus wieselte sofort los und nahm Witterung nach dem Zugpersonal auf. Nach einigen Minuten kehrte er mit zufriedener Miene zurück: Die Anschlußübernahme steht! -

Wir saßen also jetzt in einem IC nach Frankfurt-Flughafen über Frankfurt-Süd. Catherin wollte zwar über Frankfurt-Hbf nach Darmstadt. Aber der eine Goldjunge hatte sofort herausgefunden, dass man von F-Süd gut die S3/S4 nach Darmstadt erreicht.

Was waren das also für Youngsters, die für jede Hiobsbotschaft während der Fahrt dankbar waren? - Mir dämmerte es: es muss sich um eine neue Trend-Sportart namens Chaos-Train-Hopping handeln. Mit folgenden Regeln:

  1. Erspähe einen Zug, der hoffnungslos verspätet und ebenso überfüllt mit Schiffs- bzw. Bahn-Brüchigen ankommt;
  2. Steig' ein. -

Regel 2 ist deswegen nicht trivial, weil sie nicht die Aufforderung enthält: hol' dir ein ticket - Unnötig, wenn das Zugpersonal volle Deckung genommen hat. Im Übrigen betrachten es diese Travellers als sportliche Herausforderung, wenn Ansagen wie die vor Leipzig erfolgen. Es ist ein Adrenalinstoß - ein Upgrade auf den nächsthöheren Level dieses Reality-Games...

- Es kommt ein Bus von nirgendwo -

Kurz nach 22.30 Uhr erreichten wir Frankfurt-Süd. Ich machte mich an meinen Sherpa-Job. Rih stellte ich am nächstgelegenen Pfosten ab, und Hatatitla wurde die Treppe runter und an Bahnsteig 8 wieder raufgezerrt. Dem echten Kara Ben Nemsi wäre dieser Fehler nicht unterlaufen - er hätte erst ausgespäht, ob an Gleis 8 tatsächlich die Ankunft des Feuerrosses geweissagt wird. Denn der Fortsetzungsroman in Laufschrift an Gleis 8 beinhaltete folgendes:
Oberleitungsschaden in Rödelheim - Weiterfahrt erst ab Langen möglich - Dazwischen Schienenersatzverkehr (zu Deutsch: Bus). Immerhin stand am Bahngleis ein leibhaftiges Männchen, das uns versicherte, dass der Bus schon am Südausgang auf uns wartet.

Während ich also den störrischen Hatatitla wieder die Treppe runterzerrte und überlegte, wo ich Rih gelassen hatte, sinnierte Catherin schon recht kleinlaut, ob die Räder wirklich in den Bus passen würden. - Die Zweifel erwiesen sich als vollkommen unbegründet. Es war nämlich gar kein Bus da. Dafür aber eine aufgebrachte Menschenmenge, die seit einer Stunde auf einen solchen wartete. Alte Männer schimpften, junge Ladies jammerten, dass sie noch bis in den hintersten Odenwald und morgen früh um sieben wieder auf die Arbeit müssten. Linienbusse, sobald sie uns wahrnahmen, schalteten sofort auf "Durchstarten". Stattdessen umrundeten immer mehr Taxis den Pulk, wie Haie das sinkende Schiff. Von fern zog ein neues Gerücht auf: Die S3 sei jetzt doch da, würde aber in einer Minute weiterfahren...

Einer der Golden Boys war immer noch bei uns und seine Stimmung immer noch bestens. Seine aktuellen Blackbox-Infos lauteten, dass in Langen nicht die S3 vom RMV, sondern ein Zug von VIAS abfahrbereit steht - und ob der auf einen maroden Bus der Konkurrenz warten würde... also sein unerwarteter Vorschlag: wir nehmen das Rad. -

Mein Job war damit beendet. Ich verabschiedete mich von Catherin, wünschte den beiden einen guten Anstieg auf den Sachsenhäuser Berg, fand meinen Rih wieder und war nach einer halben Stunde bei mir zuhause in Frankfurt-Südwest. Fix und alle, aber doch erleichtert plumpste ich aufs Sofa. Kaum hatte ich ausgeplumpst, öffnete Petrus unter majestätischem Donner sämtliche Schleusen. Catherin und ihr Goldjunge waren da auf offenem Gelände zwischen Neu-Isenburg und Langen...

- Epilog -

Wenn die DB mal wieder ihre Züge mit Kosenamen versehen will, schlage ich für den IC 1956 "Linda McCartney" vor: Let's get lost - diesen berühmten Satz sagte sie seinerzeit zu Paul, als der in Arbeit ertrank, und packte ihn ratzfatz in ihr Auto. Er dankte es ihr in dem wunderbaren Song "You never give me your money" (Abbey Road) mit der Zeile,
Oooh - that magic feeling:
Nowhere to go.

Erich Kleppel

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Links: Der Tourenhänger - im Normalfall ein Hingucker, im hier geschilderten Sonderfall eher ein Fluch
Rechts: Asterix und Idefix auch in diesem Jahr wieder mit dabei.
Fotos: Tour de Natur