Skip to content

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main   

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt am Main

Artikel dieser Ausgabe

Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Frankfurt

Artikel dieser Ausgabe
"

Das Zwiebelprinzip

Eine Winter-Nachbetrachtung

Im Winter ist es kalt. Nicht immer und nicht überall, bei uns jedoch in den letzten Wochen deutlich spürbar. Sehr kalt. Bei Temperaturen von minus 12 Grad morgens auf das Rad zu steigen ist, je nach Sichtweise, heldenhaft, vergnüglich, bescheuert oder, ganz einfach, normal. Für mich ist es immer wieder ein Vergnügen. Die Buchhändlerin, bei der ich mich nach dem bezeichnenden Titel "Das Glück auf zwei Rädern" erkundige, seufzt hörbar durchs Telefon, ein leises "wie wahr, wie wahr" ist zu vernehmen. Draußen zeigt das Thermometer immer noch minus 10 Grad, die Buchhändlerin findet es ebenfalls vergnüglich, morgens aufs Rad zu steigen.

Bei eiskaltem Gegenwind durch die Stadt zu radeln, ist natürlich nicht immer ganz vergnüglich. Aber bei Ostwind, Morgensonne und tiefem Frost nach Hanau zu radeln, ist schon wieder viel vergnüglicher. Auf den Feldern und Wiesen glitzern Eiskristalle, die Ufer des Mains sind angefroren, vor der Schleusenkammer bei Dietesheim staut sich Treibeis. Ab und zu sticht der Wind schmerzhaft ins Gesicht. Doch dank warmer Unterwäsche, Pullover, Anorak und dicker Handschuhe bleibt die Fahrt trotz der Kälte ein Vergnügen. Nur die Füße sehnen sich bald nach einem warmen Platz unter einem Kaffeehaustisch.

So geht das Jahr für Jahr, Winter für Winter, seit vielen Jahren. Wenn es kalt wird, ziehe ich mich warm an. Wenn ich mich in der Kälte bewege, ziehe ich mich nicht ganz so warm an. Wenn ich besonders schlau in der Kälte unterwegs sein will, ziehe ich mehrere Schichten übereinander an. Dann kann ich mich von einzelnen dieser Schichten befreien, falls mir trotz der Kälte warm werden sollte. So hat es bereits mein Großvater vor Jahrzehnten gehalten, als er mit Ski im Winter im Nordhessischen Bergland unterwegs war. Eigentlich alles ganz einfach und nachvollziehbar. Wenn's kalt wird: Pullover an. Wenn's warm wird: Pullover (wahlweise auch Weste, Janker, Joppe, Anorak, Shirt o.ä.) aus.

Zwiebelradler (von Michael Samstag)

So einfach war das früher. Doch nun hat die Wissenschaft, die Sport- und Wanderwissenschaft, die Rad- und Skiwissenschaft, die Bewegungs- und Durchblutungswissenschaft eine grandiose Entdeckung gemacht: Das Zwiebelprinzip. Das Zwiebelprinzip besagt, dass der Mensch, so er sich in der Kälte bewegen will, sich in Schale werfen möge wie eine Zwiebel - Schicht für Schicht, Lage für Lage soll der Körper mit leichten Kleidungsstücken bedeckt werden. Denn wer zum Radfahren über seiner Unterwäsche nur einen dicken, langen Winterwollmantel trägt, gerät leicht ins Schwitzen. Um dem vorzubeugen und in dieser Situation nicht umgehend von Erkältung und Nierenleiden überrascht zu werden, muss der Mantelträger entweder A) die Unterwäsche ausziehen, oder B) den Mantel von sich werfen. A) führt zu unschönen Reizungen und Juckbeschwerden auf der Haut (Wollmantel!), B) zu Erfrierungen. Das wusste zwar bereits mein Großvater, doch für all seine Nachkommen hat die Wissenschaft sicherheitshalber das Zwiebelprinzip entdeckt.

Bekannt wurde das Zwiebelprinzip vor einigen Jahren durch Veröffentlichungen in der Presse. Hier seien an erster Stelle die Publikationen der Krankenkassen genannt, im Verbund mit den Presseerzeugnissen der Apotheken-Branche. Es folgten allgemeine Sport- und Gesundheitsmagazine, Wanderhefte, Fahrradführer, Reisemagazine und, und, und. Gern wurde der Hinweis auf das Zwiebelprinzip in einem farbigen Rahmen präsentiert, gern in der Rubrik "Tipps", "Die richtige Wanderkleidung", "Richtig angezogen beim Biken". Ergänzt wurden die Hinweise um Begriffe wie "atmungsaktiv", "Windstopper" oder "Schutzfunktion". So konnte ich bereits als Mann mittleren Alters lernen, wie ich mich im Winter richtig anziehe, ohne zu frieren oder zu schwitzen.

Inzwischen sollte jedem Bürger dieser Republik (wenigstens jedem "outdoor"-Bürger und jeder "outdoor"-Bürgerin) das Zwiebelprinzip geläufig sein. Ich bin nun ein Mann fortgeschritteneren Alters und beobachte seit einigen Jahren das Phänomen Zwiebelprinzip. Im Herbst starten gewöhnlich erste Kampagnen in der bereits erwähnten Presse, so dass bis zur Weihnachtszeit niemand mehr überraschend durch festfrierenden Schweiß beim Radsport oder Langlauf umkommen muss. Letzte Warnmeldungen werden dann Anfang Januar ausgegeben, bevor das Zwiebelprinzip bis zum nächsten Herbst von der Bildfläche verschwindet. Nur vereinzelt wird es in zeitlosen Werken wie Wanderführern oder Gesundheitsbüchern ganzjährig gesichtet.

Dies scheint jedoch bis zur Pressestelle unseres Vereins noch nicht vorgedrungen zu sein. Mit Datum vom 2. Februar wird vermeldet: "...Für die längere Tour empfiehlt der ADFC das altbekannte Zwiebelprinzip mit mehreren dünnen Schichten übereinander. Wenn es zu warm wird, kann man problemlos eine Schicht ablegen, ohne zu frieren...".

Das war knapp. Das war ganz knapp. Am 2. Februar, gerade zu Beginn der Rundreise von "Hoch Dieter" über Mitteleuropäischem Festland, ganz knapp vor der Ankunft "sibirischer Kaltluftmassen", rettet uns die Pressestelle des Bundesverbands des ADFC noch vor ernsthaften Körperschäden durch Verkühlung. Doch nicht nur das Zwiebelprinzip kommt hier zu späten Ehren - unsere Pressestelle hält noch einen weiteren spektakulären Tipp für uns Rad fahrende Outdoor-Bürger bereit: "Für die Hände sind gefütterte und winddichte Handschuhe das Mittel der Wahl."

Potztausend!, möchte man ausrufen. Wenn das mein Großvater schon gewusst hätte. Wahrscheinlich wäre er damals genau so vergnügt auf Ski durch das Nordhessische Bergland gelaufen wie ich heute per Fahrrad von Frankfurt nach Hanau fahre. Dank Zwiebelprinzip und Handschuhen. Für die Füße empfehle ich (wie auch unsere Pressestelle) doppelte Socken in weiten Schuhen. Als weitere Schutzschicht - um dem Zwiebelprinzip auch am unteren Ende des Winter-Radlers nicht untreu zu werden - könnten Neoprengamaschen das "Mittel der Wahl" sein. Die schützen vor Nässe und Kälte. Nicht aber vor zukünftigen Veröffentlichungen zum Zwiebelprinzip.

Peter Sauer